Ein AfD-Beitritt sorgt für Aufruhr im SPD-geführten Waldkappel

vor 8 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Im beschaulichen Waldkappel bahnt sich ein mittleres Erdbeben an. Allerdings nicht, weil dort ein Windrad umgefallen wäre. Sondern weil ein kommunaler Mandatsträger sich etwas geleistet hat, das im Biotop der hessischen Medien- und Parteienlandschaft als Gotteslästerung gilt: Er ist in die AfD eingetreten. Lukas Gesang, bislang bekannt als freundlicher Vize-Bürgermeister, SPD-nah und sozial engagiert, hat den Schritt gewagt – ganz ohne die Erlaubnis der Empörungsgemeinschaft.

Beim Hessischen Rundfunk ebenso wie bei der SPD mussten daraufhin offenbar Kübel mit Baldriantee verteilt werden. Denn Gesang hatte den unverzeihlichen Fehler begangen, seinen Parteieintritt nicht in der Parteizentrale der SPD anzumelden und auch nicht beim HR. Stattdessen hatte er sich erlaubt, sich eine eigene Meinung über die Bundespolitik zu bilden und daraus Konsequenzen für sich zu ziehen.

Der Hessische Rundfunk, der sonst für fast alles großes Verständnis aufbringt, was außerhalb bürgerlicher Konventionen stattfindet, kann bei dieser Art von „Coming-Out“ nur noch schwer an sich halten. Dass jemand in den Reihen der SPD groß geworden ist und dann den Weg zur AfD findet? Das ist ungefähr so, als würde der Papst bei einer Pegida-Demo sichten lassen werden. Sakrileg!

Die Stadtverwaltung führt ihn auf ihrer Website weiterhin mit dem SPD-Zusatz. Das wirkt nun wie ein Schild, das man nicht mehr abgeknibbelt bekommt, obwohl es längst abblättert. Dabei hat Gesang längst erklärt, was ihn zu dem Schritt bewogen hat: Die politischen Zustände auf Bundesebene, die Bewertung der AfD durch den Verfassungsschutz und wohl auch das Gefühl, dass man in dieser Republik zwar alles Mögliche sein darf, nur nicht konservativ mit Haltung (in der besten Tradition des Wortes, nicht der von Links entkernten).

Die SPD reagiert entsprechend, humorlos. Der örtliche Unterbezirksvorsitzende ließ wissen, man werde „alles daran setzen, dass dieser Mensch aus dem Amt kommt“. Ein Satz, der aus dem Munde eines streng demokratischen Funktionärs kommt, aber dennoch eher nach politischer Säuberung klingt. Auch sonst wird weniger argumentiert als gewertet. Nazis raus! Aus dem Magistrat, dem Dorf, dem gesellschaftlichen Diskurs. Cheerio und fertig.

Unterdessen betont die AfD, dass Lukas Gesang kein anderer Mensch geworden sei, nur weil er nun formal das Parteibuch gewechselt hat. Ein interessanter Gedanke, den man im hr-Universum vermutlich für zu gefährlich hält. Dort dominiert weiterhin die Theorie, dass sich mit dem Eintritt in die AfD sofort die Einstellung um 180 Grad verändert und im Keller eine Reichskriegsflagge gehisst wird.

Auch Waldkappels Bürgermeister gibt sich verschnupft. Er sei „irritiert“, heißt es. Denn Gesang habe nie davon gesprochen, dass er der AfD beigetreten sei. Als ob man sich heute noch öffentlich zur AfD bekennen könnte, ohne dass einem das Fahrrad zerkratzt, der Job gefährdet oder die Mitgliedschaft in Vereinen aufgekündigt wird.

Während die SPD an einem Auszug bastelt, mahnt ausgerechnet ein Vertreter der Überparteilichen Wählergemeinschaft zur Fairness. Gesang tue viel Soziales, man solle die Kirche mal im Dorf lassen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn wenn eines in der deutschen Medienprovinz nicht verziehen wird, dann der Bruch mit dem linken Konsens. Und sei er auch noch so höflich formuliert.

Während SPD und Kommunalparlament noch am Aufmarschplan zur politischen Exkommunikation basteln, liefert ein Zukunftsforscher – und das ist dann doch das bemerkenswerte im HR-Bericht – eine recht nüchterne Erklärung für das Phänomen Gesang und viele, die ihm folgen könnten. Hartwin Maas vom Institut für Generationenforschung erklärt trocken, was dem SPD-Unterbezirk offenbar völlig unverständlich ist: Die AfD wirkt auf viele junge Menschen schlicht als logischer Ort für Wandel. Nicht, weil sie radikal wären, sondern weil alles andere so radikal festgefahren wirkt.

„Die AfD ist ein Zufluchtsort für sie“, sagt Maas. Junge Politiker, die nicht bereit sind, auf Signalworte zu achten und sich ideologisch zu verbiegen, sehen in der AfD offenbar mehr politische Hebel als bei den saturierten Parteien. Auch die Einstufung als „rechtsextrem“ schreckt viele nicht ab – die Einstellung gleiche mehr: „Wie kann die Partei rechtsextrem sein, wenn ich es nicht bin?“

Man könnte es als jugendliche Naivität abtun oder als lakonische Antwort auf einen Politikbetrieb, der zwischen identitätspolitischer Dauermoral, klimaheiliger Selbsterlösung und Karrierestau für Quereinsteiger kaum noch Spielräume bietet.

Das dürfte auch erklären, warum ein Jahrgang-1995-Kommunalpolitiker wie Lukas Gesang die Reißleine zieht – nicht aus ideologischer Radikalisierung, sondern aus wachsender Distanz zur Gleichschaltung der politischen Landschaft. Was als Skandal verkauft wird, ist für viele in seiner Generation schlicht ein Versuch, überhaupt noch etwas politisch zu bewegen.

Der parteilose frühere SPD- und FDP-Mann Stephan Schorn bringt es auf den Punkt: Die ältere Generation unterschätze maßlos, wie stark der Groll der Jüngeren ist, wenn sie Fotos aus den 1990ern sehen – mit stabilen Innenstädten, Busfahren ohne Angst, Großveranstaltungen ohne Wachtürme. „Sie sehen, was wir hatten – und sie nie hatten.“

Und sie sehen: Keine andere Partei bietet ihnen an, sich das zurückzuholen. Die AfD ist nicht die beste Option, sie stellt oft die einzige dar. Und das liegt nicht an der Radikalität der Jugend, sondern an der Selbstaufgabe und dem immer stärkeren Zusammenrücken der anderen Parteien. Die sprechen lieber über das Klima in 2090 als über die Sicherheit in 2025.

Auch die Nazi-Keule, so Schorn, prallt zunehmend ab. Für viele unter 30 ist der Nationalsozialismus so fern wie für die Boomer die Völkerschlacht bei Leipzig. Das wirkt auf diese Generation weder schockierend noch identitätsstiftend, sondern wie eine hohle moralische Erpressung aus der Zeit ihrer Urgroßeltern.

Das eigentliche Problem ist also nicht Lukas Gesang. Das Problem ist, dass seine Entscheidung nicht als Weckruf verstanden wird, sondern als Verrat. Dass eine Generation politisch aufbricht, wird nicht ernst genommen, sondern in aller Form abgewehrt. Die Folge ist dann eine zunehmende Entfremdung. Weniger Radikalisierung, sondern stille Abkehr.

Was bleibt, ist ein Provinzskandal mit Symbolkraft. Nicht, weil jemand die Seiten gewechselt hat. Sondern weil sich daran offenbart, wie schmal der Korridor geworden ist, in dem man heute noch ohne betreutes Denken atmen darf. Wer ausschert, wird nicht mehr widersprochen, sondern exkommuniziert. Das ist der eigentliche Skandal. Und der wird nicht nur in Waldkappel sichtbar.

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