
Ostpreußen 1940, ein schöner Sommertag. Bonhoeffer sitzt nach einem Vortrag in Memel entspannt mit einem Freund in einem Kaffeegarten. Plötzlich dröhnt aus den Lautsprechern des Lokals das Fanfarensignal für eine Eilmeldung. Frankreich hat kapituliert, hieß die triumphale Botschaft.
Die Leute an den Tischen konnten es kaum fassen. Alle, die das Steckenbleiben der deutschen Offensive von 1914 nicht vergessen hatten, waren überwältigt von diesem grandiosen Blitzsieg. Die Besucher des Lokals sprangen auf, einige stiegen sogar auf die Stühle. Mit ausgestrecktem Arm riefen sie „Heil Hitler“ und sangen „Deutschland, Deutschland über alles“.
Auch Bonhoeffer war aufgestanden, hob den Arm zum Hitlergruß. Als sein Freund erstarrt sitzenblieb, raunte Bonhoeffer ihn an: „Steh auf! Nimm den Arm hoch! Mach mit!“ Hinterher erklärte er dem Freund, dass er für solche Peanuts wie den Hitlergruß nicht sein Leben riskieren wolle. „In diesen Dingen müssen wir uns ergeben. Wir müssen unsere Kräfte für den echten Widerstand bewahren.“
Die Psychologie spricht von der „selektiven Authenzität“; damit weist sie darauf hin, dass man sich und seiner Sache erheblich schaden kann, wenn man sein Innerstes in bestimmten Situationen unüberlegt nach außen kehrt.
In ganz unterschiedlichen privaten, beruflichen oder politischen Kontexten hat mich Bonhoeffers Polarität von Widerstand und Ergebung inspiriert:
1988 habe ich als Student in der DDR ein Praktikum in der Kirche machen dürfen. Die dortige überregionale Kirchenzeitung wurde über Jahrzehnte vom SED-Staat vor Abdruck inhaltlich „gereinigt“. Die Zeitung musste sich das gefallen lassen. Doch 1988 wechselte die Kirche von dem Modus der Ergebung in den Modus des Widerstands: Die Kirchenzeitung ließ im Abdruck alle zensierten Wörter, Satzteile und Abschnitte einfach weiß. Das schlug ein wie eine Bombe. Die Leser kapierten schnell, dass dies kein Druckfehler war. Das bisher unsichtbare Tabu der Zensur wurde für alle sichtbar. Im Nachhinein betrachtet war 1988 ein optimales Timing für diesen gelungenen Akt des Protestes.
Februar 2022 in Mülheim an der Ruhr auf den Montagsdemonstrationen gegen die Impfpflicht. Die Regierung machte plötzlich die Auflage, dass alle Demonstranten eine Maske tragen müssten. Polizei und Ordnungsamt ahndeten rigide alle Verstöße. Das zu einer Zeit, wo Besucher im Universitätsklinikum Leiden/Niederlande bereits ohne Maske ihre Angehörigen besuchen durften. Unter uns Demonstranten brachen heftige Diskussionen aus. Sollte man die Masken tragen, obwohl den meisten klar war, dass die Maske unter freiem Himmel nur reine Schikane war? Selbst der Hardliner Karl Lauterbach hat später bei Lanz gesagt, dass das Maskentragen draußen „Schwachsinn“ (!) gewesen sei.
Hätten alle Demonstranten in den Widerstand gehen und die Maske verweigern sollen? Der gärige Haufen der Demonstranten konnte sich in der Spannung von Widerstand und Ergebung nicht auf eine gemeinsame Linie einigen. Viele plädierten dafür, weiterhin rein auf die Frage der Impfpflicht konzentriert zu bleiben und sich nicht mit der Polizei anzulegen. Die Montagsdemonstrationen verloren an dieser Frage an Zusammenhalt und Stärke. Vielleicht war genau das von der Regierung beabsichtigt.
Dietrich Bonhoeffer konnte auf dem Kontinuum von Widerstand und Ergebung sogar folgende Gedanken äußern: Nicht nur „Parteiabzeichen und Hitlergruß“ könnten notwendig werden, sondern auch das „Verbleiben in belasteten Kommandostellen, in der Abwehr, im Auswärtigen Amt, ja sogar in der SS“. Der umstürzlerische Widerstand sei ja auf solche Leute im System angewiesen. Dieser Preis müsse bezahlt werden. „Man muss bleiben, um Schlimmeres zu verhüten.“ Man müsse bereit sein, Schuld auf sich zu nehmen. Unser Blut, das wir im Märtyrertod bereit sind, auf uns zu nehmen, „wird nicht so unschuldig und leuchtend sein wie jenes der ersten Zeugen der Christenheit“. Dietrich Bonhoeffer hatte den Widerstand gegen das NS-Regime psychologisch und theologisch konsequent und ohne Beschönigungen durchdacht.
Am 8. April 1945 wurde Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg standrechtlich verurteilt zum Tod durch Erhängen. Der Verurteilte musste sich entkleiden und nackt seinen letzten irdischen Weg gehen. Der SS-Lagerarzt Hermann Fischer erinnerte sich an seine Hinrichtung:
„Durch die halbgeöffnete Tür eines Zimmers im Barackenanbau sah ich vor der Ablegung der Häftlingskleidung Pastor Bonhoeffer in innigem Gebet mit seinem Herrgott knien. Die hingebungsvolle und erhörungsgewisse Art des Gebets dieses außerordentlich sympathischen Mannes hat mich auf das Tiefste erschüttert. Auch an der Richtstätte selbst verrichtete er noch ein kurzes Gebet und bestieg dann mutig und gefasst die Treppe zum Galgen.“