
Ein Gastkommentar von Michael Andrick
Eine große Mehrheit der Bevölkerung fordert in Umfragen eine Neuausrichtung der Migrationspolitik. In deutschen Parlamenten ist eine Mitte-Rechts-Mehrheit für dieses Vorhaben gegeben. Der Volkswille ist deutlich, die Mehrheit steht. Warum wird nicht gehandelt?
Das politische Theater um die Zuwanderungspolitik wird aufgeführt, weil es die „Brandmauer“ der in Bund und Ländern regierenden Parteien gegen die Alternative für Deutschland (AfD) gibt.
Die Fraktion der AfD im Bundestag
Es ist also an der Zeit, einmal grundsätzlich zu fragen: Ist eine „Brandmauer“ gegen eine nicht verbotene Partei in einer demokratischen Republik legitim?
Die „Brandmauer“-Rhetorik ist, sieht man genau hin, keine belanglose Phrasendrescherei, sondern Demagogie. Die Anhänger der ausgegrenzten Partei werden mit dieser Redeweise als Totschläger oder Mörder bezeichnet. Totschläger, wenn sie „nur“ fahrlässig Brände im „Haus der Republik“ legen; Mörder, wenn man ihnen gezielte „Brandstiftung“ unterstellt. Darin liegt objektiv eine Aufhetzung der übrigen Bürger gegen die Anhänger der ausgegrenzten Partei.
Und noch etwas steckt im Bild der „Brandmauer“: Wer es verwendet, behauptet von sich selbst, seine Mitbürger als moralischer Vormund vor dem Schlimmsten zu bewahren. Man meint, die sittliche Wahrheit erkannt zu haben, und jeder, der die „Brandmauer“-Politik nicht mitträgt oder nur den kleinsten Abstrich von ihr macht, wird als moralisch böse, als mutwilliger Gefährder seiner Mitmenschen gebrandmarkt.
Linke Aktivisten besetzten Ende Januar die Geschäftsstelle des CDU-Kreisverbands.
Die Ausschreitungen und Hassparolen gegen die Unionsparteien nach ihrer Zusammenarbeit mit der AfD beim Entschließungsantrag zur Migrationspolitik haben diese radikale „Schuldübertragung“ der moralisch selbsternannten Republikretter auf jeden, der aus ihrer Reihe tanzen will, eindrucksvoll belegt.
Für den sozialen Frieden ist eine solche moralisierende Verhetzung des Diskurses katastrophal. Politische Diskussionen werden in diesem vergifteten Klima, das ich in meinem letzten Buch als Moralgefängnis beschrieben habe, ganz zutreffend als Gefahr erlebt: Sage ich etwas „Falsches“, bin ich von Ausgrenzung bedroht. Das ist für das Rottenwesen Mensch, das auf Einbindung in einen Sozialverband und gelingende Kooperation angewiesen ist, ein Alptraum.
Folglich beginnen viele Bürger ihre Äußerungen mittlerweile mit Ritualfloskeln wie „Ich bin nicht rechts, aber …“ oder „Ich glaube an den Klimawandel, aber …“. Familien und Freundeskreise zerbrechen über fanatisierte Diskussionen, in denen der Andere gar nicht mehr wirklich gehört wird. Laut Allensbach sagen nur noch etwas mehr als 40 Prozent der Deutschen frei und ungezwungen ihre Meinung. Viele sagen lieber gar nichts mehr.
Aber nicht nur für den sozialen Frieden ist die „Brandmauerei“ schädlich. Sie legt auch staatspolitisch die Axt an das Wertefundament der Bundesrepublik.
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Grundgesetz, Art. 20, Abs. 2) bedeutet, dass Deutschland eine demokratische Republik zu sein hat, in der es keine per se Privilegierten gibt, die das Recht hätten, einige ihrer Mitbürger von der Mitgestaltung auszusperren.
„Dem deutschen Volke“ steht über dem Gebäude des Deutschen Bundestages in Berlin.
Wir sind als Bürger berufen, gleichberechtigt die Politik zu gestalten. Nur in Diktaturen und anderen unfreien Ordnungen entscheidet eine selbsternannte Elite darüber, wer zur politischen Diskussion zugelassen und wer von ihr ausgesperrt wird. Die „Brandmauer“-Parteien maßen sich zu Unrecht diese Rolle an. Sie wollen die Republik durch eine Gesinnungsgemeinschaft ihrer Anhänger ersetzen.
Genau diese verfassungsfeindliche Tendenz zeigt sich, wenn die Bundesrepublik Deutschland – die als Republik niemandem als allen ihren Bürgern gemeinsam „gehört“ – vor allem von Vertretern der aktuellen Regierungsparteien als „unsere Demokratie“ (Steinmeier, Faeser, Scholz, Haldenwang und andere) bezeichnet wird.
Der aufmerksame Bürger muss sich nun fragen: „Wenn das eure Demokratie ist, und ich weder eure Parteien wähle noch euch vertraue … bin ich dann jetzt staatenlos?“
Ein Demokrat wird grundsätzlich jede Rhetorik unterlassen, die den politischen Gegner moralisch verdammt, solange dieser nicht Gewalt als Mittel der Politik propagiert und einen illegalen Umsturz anstrebt. Wir sollten nicht von „Brandmauern“ reden, und wir dürfen keine faktischen „Brandmauern“ in der Parteipolitik gegen erlaubte Parteien errichten.
Die „Brandmauer“-Parteien missachten das Demokratieprinzip, das gleiche Recht der Bürger auf politische Mitbestimmung. Sie müssen vom Verfassungsschutz beobachtet und in seinem nächsten Jahresbericht für ihre Aktivitäten gerügt werden.
***Autoreninformation:
Michael Andrick
Michael Andrick ist Philosoph und Kolumnist der Berliner Zeitung. Sein aktueller Spiegel-Bestseller „Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden“ behandelt die Effekte einer leichtfertigen Moralisierung politischer Debatten.