
Wer verstehen will, wie und warum Politik so zäh und endlos langsam funktioniert, kann es derzeit in Echtzeit verfolgen: Seit zehn Jahren wächst die AfD kontinuierlich, und jetzt, da sie zweitstärkste Kraft im Bundestag ist, kommt einigen, allerdings ganz wenigen Politikern die Idee, dass die bisherige Strategie der Ausgrenzung wohl nicht funktioniert.
Der CDU-Politiker Jens Spahn hat den „gewagten“ (Dammbruch!) Vorschlag gemacht, die AfD zumindest gemäß den parlamentarischen Regeln als, hüstel, räusper, nun ja, sagen wir mal „normale Partei“ zu behandeln. Ein Vorgehen das ehedem unter Demokraten als selbstverständlich gegolten hätte und das lediglich darauf hinausläuft, dass die AfD den Vorsitz in einigen Ausschüssen und womöglich sogar einen ihr zustehenden Vizepräsidentenposten bekommen könnte. Viel Schaden kann man damit nicht anrichten, und bei Bedarf später wieder per Abstimmung entziehen kann man die Ausschussposten auch. Bei Bedarf wohlgemerkt. Bislang hatte man sich darauf verständigt, die AfD vor möglichen Verstößen zu bestrafen, jetzt könnte ein „umstrittener“ und noch längst nicht von allen akzeptierter Vorschlag darin bestehen, es nach gängigem Rechtsverständnis zu versuchen, statt mit unterstellter Bösartigkeit.
Jens Spahn und sein „gewagter“ Vorschlag, halbwegs normal mit der AfD umzugehen, hat für Aufruhr innerhalb der Union gesorgt.
Selbst Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU), die ihren angekündigten, völlig harmlosen und auch folgenlosen Antrittsbesuch bei der AfD-Fraktion noch unter Kritik von links unterlassen hatte, sagt jetzt, dass man es mit gleichem Recht für alle probieren wolle. In der Frage der Vergabe eines größeren Fraktionssaales bringt sie allerdings das drollige Argument, die SPD habe bei ihren künftigen Sitzungen als Regierungspartei ja auch mehr „Beamte und Bedienstete“ dabei und brauche deshalb größere Räume. Das Parlament nimmt mit anderen Worten auf die Exekutive Rücksicht, die sie kontrollieren soll. Das ist zwar pragmatisch, aber kann ja kein ernsthafter Grund sein, eine 16-Prozent-Partei gegenüber einer 20-Prozent-Partei zu bevorteilen, weil man sich auf eine Regierungsbildung geeinigt hat.
Die AfD-Chefs Weidel und Chrupalla durften der neuen Bundestagspräsidentin Julia Klöckner immerhin zu ihrem Amt gratulieren. Der AfD bleiben Bundestagsämter bislang vorenthalten.
Aber es kommt immerhin Bewegung in die Frage des Umgangs mit der AfD. Ich habe vor einiger Zeit mit dem Chef des Meinungsforschungsinstituts INSA über die Dynamik solcher Debatten gesprochen. Er sagt, wenn die jeweiligen Parteispitzen, solche Diskussionen anfangen, führen und damit gewissermaßen „freigeben“, ändern sich auch die Meinungen der Parteianhänger, die dann ebenfalls diskutieren, sich Meinungen bilden, die sie vorher nicht zu denken wagten und inhaltlich neu aufstellen. Das sei in Umfragen messbar. Dass in einer freien Demokratie Debatten „freigegeben“ werden müssen, ist zwar kein guter Befund. Aber sei’s drum. Dauert halt alles. Der Fortschritt ist eine Schnecke.