
Mehr und mehr Kinder und Jugendliche haben heutzutage Messer in ihren Taschen – statt Fußballschuhe. Sie überfallen Läden und Restaurants, statt mit Freunden ins Kino zu gehen, oder sie gründen kriminelle Jugendbanden, wie zum Beispiel in Rostock oder Duisburg-Meiderich. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) fordert nun Diskussionen darüber, die Strafmündigkeit auf zwölf Jahre herabzusetzen. Bislang können Kinder und Jugendliche erst strafrechtlich belangt werden, wenn sie 14 Jahre alt sind.
Reul sagte gegenüber „Bericht aus Berlin“, dass er es satt sei, „dass immer nur gesagt wird, was nicht geht“: Er glaube nicht, dass es reichen wird, noch ein paar weitere sozialpädagogische Einrichtungen zu eröffnen. Er fordert: Auch jüngere Menschen, die eine Straftat begehen, müssen die Verantwortung für ihre Tat übernehmen. Wie man das regelt, dafür sei er offen. Aber es müsse darüber gesprochen werden. Reuls Worte sind deutlich: Kinder, die auf andere Menschen einstechen, zeigen ein Fehlverhalten, das sie durch „falsche Erziehung“ entwickelt haben.
Damit hat er recht – Kinder sind ein Abbild ihrer Erziehung: Nach der sozialkognitiven Lerntheorie des Psychologen Albert Bandura lernen Kinder durch Beobachtung, häufig am „Modell“ ihrer Eltern. Kinder übernehmen Verhaltensweisen ihrer Eltern – egal ob positiv oder negativ. Sie schauen sich dementsprechend auch ab, wie ihre Eltern mit Konflikten oder Rückschlägen umgehen.
In vielen Haushalten bleibt eine reflektierte Auseinandersetzung mit Konfliktverhalten aus – vor allem in sozialen Brennpunkten, in denen Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsnachteile und mangelnde Integration gehäuft auftreten. Wie es in solchen Stadtteilen zugeht, wird deutlich, wenn man sich Berichte der „Arche“ ansieht: Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen kommen zu Einrichtungen der Arche, um dort ihre Freizeit zu verbringen oder Hilfe bei ihren Hausaufgaben zu bekommen.
Die Mitarbeiter dieser Häuser registrieren, dass die Kinder und Jugendlichen zunehmend gewaltbereit sind. Die Hamburger Archen berichten beispielsweise von Teenagern, die aufeinander losgehen oder deutlich jüngere Kinder zu Gewalt animieren und dabei filmen. Im Hamburger Stadtteil Jenfeld gab es laut der Arche erst kürzlich eine Gruppe von Zwölf- bis Vierzehnjährigen, die unregelmäßig die Schule besuchten, Autos aufknackten, Ladengeschäfte mit Böllern terrorisierten und bereits in Kontakt mit Drogen gekommen waren. Die Mitarbeiter der Arche betonen, wie wenig „Unrechtsbewusstsein“ die Kinder und Jugendlichen mitunter haben: „Viele Jugendliche haben nie gelernt, ihr Verhalten zu reflektieren. Sie registrieren gar nicht, wenn etwas daran nicht in Ordnung ist.“
Würden solche Kinder schon mit zwölf Jahren strafrechtlich für ihr Fehlverhalten belangt, dann registrierten sie, dass etwas an ihrem Verhalten nicht in Ordnung war. Das findet auch der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt: Gegenüber Bild fordert er, dass die Strafmündigkeit auf mindestens das zwölfte Lebensjahr herabgesetzt werden muss. Es sei ein Unterschied, „ob irgendein Sozialarbeiter auf einen 12- und 13-Jährigen, der mit einem Messer bewaffnet ist und durch die Gegend läuft“ einwirke, oder ob das durch Polizei und Staatsanwaltschaft geschehe.
Für Kinder und Jugendliche, die zu Gewalt und Körperverletzung greifen, ist es also sinnvoll, die Strafmündigkeit herabzusetzen. Aber nicht für alle Kriminalitätsdelikte: Wenn ein Zwölfjähriger einmalig ein Kaugummi stiehlt, ist das auch kein moralisch korrektes Verhalten. Aber es ist kein Grund, das Kind strafrechtlich zu verfolgen. Denn das würde einen Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis bedeuten. Und das kann auch bei vermeintlich harmlosen Delikten ernsthafte Konsequenzen für bestimmte berufliche Wege oder ehrenamtliche Tätigkeiten haben: Viele Berufsgruppen erfordern ein sauberes Führungszeugnis, beispielsweise Polizisten, Staatsanwälte, Erzieher, Pflegekräfte, Lehrer, Psychotherapeuten und Steuerberater. Möchte man Freiwilligendienste in Schulen, in Jugendhilfen oder im Ausland absolvieren, kann einem ebenfalls bereits ein kleiner Eintrag im Führungszeugnis einen Strich durch die Rechnung machen. Daher sollte Zwölfjährigen, die sich noch nicht über die langfristigen Konsequenzen ihres Handelns bewusst sind, wenn sie ein Haargummi oder eine Cola-Dose stehlen, nicht die Zukunft verbaut werden.
Aber es kann nicht so weitergehen, dass Unter-14-Jährige straffrei davonkommen, wenn sie beispielsweise auf offener Straße jemandem ein Messer ins Bein rammen, wie zuletzt in Remscheid in Nordrhein-Westfalen. Dort zückte ein elfjähriger Iraker während einer Schlägerei ein Messer und verletzte einen Schulkameraden schwer. Danach wurde der Junge wieder in die Obhut seiner Eltern übergeben. Das Jugendamt wurde eingeschaltet, entschied sich aber dagegen, den Jungen aus der Familie zu nehmen, da keine „Kindeswohlgefährdung“ vorliege, wie der WDR berichtet. Nach dem Messerangriff haben die Eltern des Jungen eine vertraute Familienbetreuerin proaktiv kontaktiert und hinzugebeten. Immerhin. Diese begleitet die Familie nun wieder – nachdem eine flexible Familienhilfe in der Vergangenheit bereits abgeschlossen war. Solche pädagogischen Hilfen für Familien von gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen sind wichtig, aber sie reichen oft nicht aus. Strafrechtlich braucht sich der junge Täter keine Sorgen zu machen: Er war erst elf Jahre alt und muss sich daher nicht vor Gericht verantworten.
Der Junge aus Remscheid ist nur ein Beispiel von vielen nicht strafmündigen Kindern, die nach einem schwerwiegenden Fehlverhalten zurück in ihre – oftmals zerrütteten – Familien kommen. In vielen solcher Familien bleibt eine Reflexion über das Fehlverhalten des Kindes aus. Die Kinder können also quasi tun und lassen, was sie wollen, ohne ernsthafte Konsequenzen befürchten oder Verantwortung für ihre Taten übernehmen zu müssen. Und die Kinder scheinen das zu merken: Denn viele werden wieder auffällig, wie die Jugendbande aus Rostock zeigt.
Andere Kinder haben Angst, allein nach Hause zu gehen, wie die Hamburger Archen berichten. Und so würden immer mehr Kinder ein Messer mit sich führen – als „Schutzbewaffnung“. Aber, wie der Pressesprecher der Arche, Wolfgang Büscher, gegenüber Nius sagte, somit entsteht ein Teufelskreis: Denn wenn ein Kind ein Messer dabeihabe, würde es das auch irgendwann einsetzen.
Klare Zeichen sind also dringend notwendig, wenn ein Kind andere Menschen schwer verletzt. Nur so kann der Teufelskreis der Gewalt unter Kindern und Jugendlichen unterbrochen werden. Zwölfjährige, die derartige Straftaten begehen, strafrechtlich zu verfolgen, würde eine solche klare Botschaft sein, und könnte die Hemmschwelle erhöhen, dass die Kinder tatsächlich zustechen. Sie „einfach“ zu einer Freiheitsstrafe zu verurteilen, löst jedoch nicht das Problem: Viele Jugendliche werden nach ihrer Entlassung erneut straffällig, wie beispielsweise eine Studie des „Kriminologischen Dienstes des Landes Nordrhein-Westfalen“ zeigt: Demnach begingen knapp drei von vier Jugendlichen mindestens eine erneute Straftat innerhalb von drei Jahren nach ihrer Entlassung.
Entsprechend muss die Regierung den Jugendstrafvollzug grundlegend ändern. Hierbei könnte sich Deutschland ein Beispiel an der Schweiz nehmen: Dort werden jugendliche Straftäter in sogenannten „Maßnahmenzentren“ untergebracht. Diese Einrichtungen kombinieren Freiheitsentzug mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten. In der Schweiz fokussieren sich die Strafrechtler, Sozialpädagogen und Therapeuten darauf, die persönlichen, familiären, schulischen, beruflichen und freizeitlichen Verhältnisse eines Jugendlichen abzuklären und somit Maßnahmen zu finden, die individuell auf den Täter zugeschnitten sind, wie die „Schweizerische Kriminalprävention“ schreibt.
Auch in der Schweiz steigen seit einigen Jahren die Zahlen gewaltbereiter Kinder und Jugendliche – trotz der „Maßnahmenzentren“. Dennoch ist es wichtig, dass wie in der Schweiz ein stärkerer Fokus auf die Therapie der Kinder und Jugendlichen gelegt wird: Immerhin fällt kein Straftäter vom Himmel. Es hat Gründe, weshalb Kinder zu Messerstechern werden. Daher sollten auch in Deutschland Psychotherapeuten und Sozialpädagogen gezielt auf die individuellen Lebensgeschichten der Kinder eingehen und ihnen helfen, auf den „richtigen“ Weg zu finden. Auch der Bundesverband für Kinder und Jugendlichenpsychotherapie (bkj) findet, dass im Strafvollzug für Jugendliche der Fokus neu gesetzt werden muss: und zwar darauf, dass die Jugendlichen Werte bilden, emotional reifen und Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen.
Wird der Strafvollzug derart optimiert, könnte ein Freiheitsentzug eine Chance für die Jugendlichen sein – auch schon ab zwölf Jahren. Sie würden aus ihren zerrütteten häuslichen Umständen und problematischen Freundeskreisen genommen und hätten die Möglichkeit, fokussiert an ihren Problemen zu arbeiten und ihren Weg in ein konstruktives, sozialverträgliches Leben zu finden. Wie Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft gegenüber Bild sagte: Wenn die Strafmündigkeit herabgesetzt wird, sollte es nicht darum gehen, die Kinder wegzusperren. Sondern darum, dass die Kinder von den „Segnungen eines Strafverfahrens“ profitieren können.
Aber damit wäre nicht genug getan: Nicht nur im Strafverfahren, auch generell benötigen Kinder mehr psychotherapeutische Unterstützung. Vor allem seit der Corona-Pandemie haben die Zahlen psychischer Störungen bei Kindern enorm zugenommen, wie TE berichtete: Neben Empathielosigkeit und impulsivem Verhalten treten Essstörungen, Depressionen und Angststörungen sehr viel häufiger auf.
Aber es gibt zu wenige Therapieplätze, vor allem für Kinder und Jugendliche. Die Wartezeiten betragen oft mehrere Monate. Und dieser Engpass könnte sich in den kommenden Jahren noch verschlimmern. Denn das System zieht nicht nach: Herangehende Psychotherapeuten müssen nach ihrem Masterabschluss eine mehrjährige Weiterbildung absolvieren, um mit Kindern und Jugendlichen arbeiten zu dürfen. Diese Weiterbildung nach dem 2020 reformierten Psychotherapeutengesetz ist lang, anspruchsvoll – und nicht finanziert. Während herangehende Mediziner in ihrer Facharztweiterbildung ein Gehalt bekommen, stehen angehende Psychotherapeuten oft ohne Einkommen da oder müssen sogar selbst für die Ausbildung bezahlen.
Die Folge ist Nachwuchsmangel: Viele Master-Absolventen beginnen gar nicht erst die Weiterbildung, weil sie es sich nicht leisten können. Dabei brauchen die Kinder und Jugendlichen genau diese Fachleute, um den richtigen Umgang mit ihren psychischen Problemen zu finden. Solange die Regierung keine Lösung für die Weiterbildung der Psychotherapeuten findet, wird die Versorgungslücke größer. Die Leidtragenden sind die Kinder und Jugendlichen, die sich nur noch mit einem Messer in der Hosentasche auf die Straße trauen – und irgendwann auch zustechen. Der Staat spart hier an der falschen Stelle.
Die Bundesregierung unter Friedrich Merz (CDU) hat also klare Aufgaben: die Weiterbildung von Therapeuten fördern, damit der steigende Bedarf an Therapieplätzen für Kinder und Jugendliche gedeckt werden kann und somit deren psychische Belastung reduziert werden kann, bevor es zu einer Straftat kommt; den Strafvollzug für Jugendliche reformieren und neue Schwerpunkte setzen; und vor allem die Strafmündigkeit bei schweren Delikten wie Körperverletzung oder Vergewaltigung auf mindestens zwölf Jahre herabsetzen.
Denn wenn Kinder statt ihrer Fußballschuhe Messer in ihren Taschen tragen, haben sie auf Fußballplätzen nichts verloren. Dann sollten sie in einem gesicherten Rahmen behandelt werden. Zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz der Kinder, die einfach nur Fußball spielen oder ihre Puppen frisieren möchten.