Warum die Wehrpflicht zur sicherheitspolitischen Notwendigkeit wird

vor etwa 5 Stunden

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Die Wehrpflicht: Sie ist das Herzstück des neuen, zuweilen schwindelerregend neuen verteidigungspolitischen Diskurses in unserer Republik. Als ein derart bedeutsames Thema bringt die Wehrpflicht-Diskussion alle Aspekte moderner deutscher Debatten mit sich, die schon ihre Aussetzung vor beinahe fünfzehn Jahren geprägt hatten. Die Hauptrollen in diesem Drama spielen einerseits ein Mangel an geopolitischer Weitsicht und militärpolitischer, strategischer Expertise. Andererseits ein beinahe zwanghafter Moralismus, der mit Schwung in eindeutigen, kanonischen Kategorien von Gut und Schlecht denkt und dabei gelegentlich auftauchende Polsprünge gekonnt ignoriert.

So betrachtet ist es keine Überraschung, dass manche derjenigen, die noch vor kurzem die „Bundeswehr raus aus den Schulen“ jagen wollten, die Schüler nun nicht schnell genug in der Bundeswehr sehen können. Weil die Jugend sich allerdings nicht in ausreichender Zahl selbst dort sieht, steht eine entsprechende Pflicht im Raum. Immerhin, so die landläufige Erwartung, muss sich „Europa“ (Gott bewahre, dass das eigene Land überhaupt Erwähnung findet) womöglich bald einer russischen Invasion erwehren. Außerdem werden allerhand gesellschaftspolitische Vorstellungen auf der militärischen Folie verhandelt: Diese reichen von erzieherischen und integrativen Absichten über die Vorzüge des Ersatzdienstes für Altersheime bis hin zu der absolut dringlichen Überzeugung, dass eine Wehrpflicht Männer und Frauen gleichermaßen erfassen sollte.

Im Kreml oder auch in europäischen Nachbarstaaten mag man die Stirn runzeln, weshalb die Deutschen sich so leidenschaftlich über die Geschlechtergerechtigkeit einer hypothetischen Wehrpflicht zerstreiten, die sie vermutlich ohnehin nicht wirklich einführen werden. Doch das Land diskutiert seine Verteidigung, seine Energieversorgung oder seine Zuwanderung nun einmal nicht auf der Grundlage einer halbwegs geschickten Analyse und definierten Interessen, sondern spult mit ekstatischer Hartnäckigkeit zum sittlichen Teil vor.

Gleichzeitig streben vermeintliche Experten und feldbeförderte Sicherheitspolitiker explosionsartig in die Debatte. Wenn sie das vorherige Portefeuille auf der Suche nach der allerletzten Unze Selbstgeltung abgeerntet haben, ziehen sie als Nomaden weiter zu neuen Ufern. Dann bearbeiten sie das Ressort so lange mit den immergleichen Werkzeugen ihres begrenzten Repertoires, bis auch dort nichts mehr wächst. In welchem Sachgebiet gerade die größten Zelte stehen, erkennt man also meistens an der Eindeutigkeit, mit der Debatten völlig am Thema vorbeigeführt werden.

Zwei Soldaten in der Artillerieschule in Idar-Oberstein

Nun muss es nicht zwingend hinderlich sein, eine derart bedeutende Angelegenheit wie die Wiedereinführung der Wehrpflicht auch jenseits eingefleischter Zirkel zu diskutieren. Immerhin handelt es sich dabei nicht nur um eine klassisch hoheitliche Aufgabe, sondern ihr Gelingen ist auch in herausragendem Maße von der Zustimmung unter der Bevölkerung abhängig. Es wäre richtig, wenngleich es bedauernswert selten geschieht, die Implikationen eines solchen Beschlusses möglichst breit und auch generalisierend zu diskutieren. Die Politik kann von jungen Menschen nicht ohne weiteres erwarten, dass sie sich in einem maroden Bildungssystem vernachlässigen lassen, um anschließend auf die Schindplätze vor den Stadttoren geführt zu werden, wo sie unter Einschluss militärischer Pflichten für den Rest ihres Erwerbslebens einen Frondienst an der Rente anderer zu leisten haben. Es gibt also Raum für innen- und gesellschaftspolitische Positionen rund um die Wehrpflicht.

Stattdessen drängt sich die entsprechende Klientel mit einem ebenso frisch erworbenen wie fehlerhaften Vokabular der außenpolitischen Debatte auf. Der militärische Duktus soll Kompetenz und Betroffenheit signalisieren, der evozierte Schrecken unter der Normalbevölkerung die eigene Stellung legitimieren. Die Neigung von Politik und Medien, poetische Narrative zu erzählen, überlagert dabei die zwar prosaische, dafür aber bemerkenswert verbindliche Natur schlichter Beobachtungen. So entstehen von der Realität zunehmend dissoziierte Vorschläge, die noch in der Bonner Bundesrepublik schwer denkbar gewesen wären.

Zu den gröbsten und häufigsten Fehlern in der Wehrpflicht-Debatte zählt dabei die beinahe schon zum Klischee avancierte Behauptung, eine Wehrpflicht diene der Schließung von Personallücken in der Bundeswehr. Dieser Darstellung wird zumeist mit der Idee sekundiert, eine Berufsarmee könne die Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung doch wesentlich professioneller erfüllen als eine Schar lustloser Jugendlicher.

Es dürfte dabei außer Frage stehen, dass Freiwillige in der Regel umfassender motiviert sind als Pflichtdiener, doch schon bei diesem Strohmann-Argument handelt es sich nur um eine aufgewärmte Version der Wehrpflicht-Debatte um die Zeit ihrer Aussetzung. Die zu diesem Zeitpunkt entworfenen konkurrierenden Konzepte von der Berufsarmee versus dem Massenheer bilden zwar durchaus unterschiedliche strategische Ansätze ab, allerdings stand zu keiner Gelegenheit die persönliche Motivation der Soldaten in deren Zentrum. Vielmehr folgt die Logik von zahlenmäßiger Stärke und Technisierungsgrad der Streitkräfte der Frage, ob militärische Ziele punktuell erreicht werden sollen oder ob ein Staat ob seiner globalen Gesamtlage grundsätzlich immer über ein ausreichendes Wehrpotential verfügen sollte.

Bei den „Discovery Days“ der Bundeswehr – hier vor wenigen Tagen in Berchtesgaden – können junge Leute ausprobieren, wie es bei der Bundeswehr so ist.

Abhängig von der Größe eines Staates und der Einbettung in Bündnisse sowie wahrscheinlicher geografischer und wirtschaftlicher Anforderungen, kann ein Staat gar nicht anders, als eine Miliz zu unterhalten – so wie beispielsweise die Schweiz oder, in geringerem Maße, auch Österreich. Andere Staaten, so mitunter das Vereinigte Königreich, tendieren zu einer Professionalisierung – sie können ihre strategischen Interessen auch mit geschultem Fachpersonal bei Marine und Luftwaffe punktuell durchsetzen und machen die Wellen des Atlantiks zu ihrer Miliz. Während Mikro-Staaten die Kosten für ein bescheidenes Militär oft gänzlich vermeiden und stattdessen auf Abkommen mit großen Alliierten setzen, gibt es seltene Kombinationen beider Ansätze, wie es sich am Beispiel des kleinen, aber technisch hoch professionellen Israels beinahe selbsterklärend erläutern lässt.

Die hochkomplexe geopolitische Gesamtlage Deutschlands lässt im Grunde keinen anderen Schluss zu als eine irgendwie geartete Wehrpflicht – unsere Einbettung in Bündnisse, unsere geografische Lage in der Mitte Europas sowie unsere wirtschaftliche Abhängigkeit vom Welthandel lassen sich mit einer hoch technologisierten Berufsarmee alleine schlichtweg nicht gewährleisten, zumal wir unabhängig der diplomatischen Logik für ein Dutzend auswärtiger Akteure immer auch als Kontrahent wahrgenommen werden – selbst dann, wenn wir uns mehrheitlich wie ein braver Musterschüler vorkommen.

Sodann ist der bedeutendste Aspekt der Wehrpflicht jedoch ein anderer: Entgegen üblich gewordener Darstellungen ist sie mitnichten ein probates Mittel, um die Personalprobleme der Bundeswehr zu lösen. Für diese Misere sind die Karrierecenter der Bundeswehr und ihre politische Führung schon selbst verantwortlich. Die strategische Funktion der Wehrpflicht liegt im Aufbau einer breiten, geschulten Reserve, die im Verteidigungsfall mobilisiert werden kann – wenn der erste Ring professioneller Kräfte längst gebunden oder ausgelöscht ist. Wer die Wehrpflicht in erster Linie als Personalreform begreift, hat ihren sicherheitspolitischen Kern nicht begriffen.

Eine präzise Trennung von Wehrpflicht in Friedenszeiten einerseits und Kriegsdienst im Ernstfall andererseits ist für jeden Verteidigungspolitiker essenziell: Erstere dient dem jahrelangen Aufbau einer schlagkräftigen Reserve für außenpolitisches Durchsetzungsvermögen und mittelbaren Wehrersatz, der Kriegsdienst wiederum ist ein unmittelbarer Wehrersatz für den Fall eines konkreten Angriffs. In diesem Fall ist jede Debatte um Wehrgerechtigkeit oder Ausbildungskapazitäten ohnehin müßig. Liberale, grüne und konservative Wehrpflicht-Befürworter einerseits, linke und rechte Kritiker andererseits werfen diese basale militärische Realität durcheinander, weil es ihnen leichter fällt, mit dem moralischen Endprodukt zu argumentieren. Im strategischen Denken sind sie erkennbar nicht heimisch.

Zu den Klassikern der Wehrpflicht-Debatte, die mittlerweile auch von fachkundigeren Beobachtern zu Recht vorgetragen werden, zählt die Frage nach der Realisierbarkeit. An dieser Stelle ist es sinnvoll, den Anregungen aus der Truppe ein offenes Ohr zu schenken: Tatsächlich wäre es keine besonders clevere Idee, über Nacht Grundausbildungsbataillone aus dem Boden zu stampfen und die personell auf dem Zahnfleisch marschierende Bundeswehr mit der Ausbildung unzähliger Rekruten zu überfrachten, deren Erfassung bereits eine erhebliche organisatorische Hürde darstellt. Richtig ist auch, dass die bestehende Wehrverwaltung bereits an der Beorderung williger und ausgebildeter Reservisten scheitert, die sich oft erfolglos um eine Reservedienstleistung bemühen – ohne erkennbaren Grund. Die Wiedereinführung muss also schrittweise erfolgen, damit sie umsetzbar ist. Wofür, wenn nicht für diese Art von Aufgabe wiederum, gibt es den Verteidigungsminister und seinen beachtlichen Beamtenapparat? Auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, doch es wäre unerklärlich defätistisch, einen Zustand für grundsätzlich unerreichbar zu erklären, den dieses Land bis 1990 in sehr viel größerem Umfang aufrechterhalten konnte.

Wer allerdings vor diesem vielseitig herausfordernden Hintergrund ernsthaft der Meinung ist, auch junge Frauen sollten einen Wehrdienst absolvieren – obwohl dafür nicht nur eine umfassende Grundgesetzänderung erforderlich wäre – der muss sich die Frage gefallen lassen, ob er (oder sie) wirklich verteidigungspolitische Prioritäten im Sinn hat. Nicht zuletzt erdulden junge Frauen durch Schwangerschaften und Elternzeit ohnehin merkliche Ausfälle bei Erwerbstätigkeit und Rente: Es ist selbst in der Logik eines progressiven Weltbildes schwer erklärlich, warum die Bearbeitung einer derartigen Mammutaufgabe ausgerechnet hier beginnen sollte. Frühestens, wenn zumindest die organisatorische Bewältigung einer Musterungspflicht gelänge, könnte eine solche Thematik überhaupt seriös diskutiert werden.

Bundeswehr-Soldaten mit Sturmgewehren bei einer Übung in Idar-Oberstein

Der kulturelle Kern der Debatte bleibt jedoch der zahlreichen Verweise auf die geopolitische Lage zum Trotz unangetastet: Wofür sollen wir kämpfen? Es ist ein Leichtes, vor der russischen Aggression zu warnen oder den Systemkampf mit China, die Abnabelung von den USA zu beschwören. Selbst technische und finanzielle Probleme lassen sich letztlich lösen, denn der Staat ist mitnichten so arm, wie er es zuweilen vorgibt.

Die postheroische Mausefalle moderner Staaten aber liegt darin, dass sie entweder vor Herausforderungen kapitulieren oder zum Outsourcing neigen.  Wer verteidigt uns eigentlich, nur einmal hypothetisch? Man muss keinen Feind beschwören, um sich diesem Gedankenexperiment zu stellen: Mal sind es die Amerikaner, mal die Franzosen mit ihren eigenen Atomwaffen – die NATO, die EU, womöglich die Polen. Vielleicht legen wir unsere Sicherheit auch in die Hände des Kremls oder Pekings, oder wir vertrauen auf das diplomatische Geschick unserer Unternehmen und Politiker. Nun, da diese Optionen sich als zunehmend illusorisch entpuppen, droht der Rückfall in die nächste Delegation: Es sind die professionellen Soldaten der Bundeswehr, die all das, was uns lieb und teuer ist, im Zweifel durchsetzen werden. Wirklich?

Die bellizistische Rhetorik erlebt ihr erstes Allzeithoch im 21. Jahrhundert, doch kommt es zum Schwur durch den Einzelnen, findet der ohnehin aplastische Wehrwille ein jähes Ende. Andere sollen diese Aufgabe durch eine Opfergabe erfüllen, man ist allenfalls bereit, sich an den Kosten zu beteiligen. Außenpolitik wird so auf einen Rest kosmetischer Funktion eingedampft.

Wo sonst aber sind die Sicherheit und die Souveränität des Landes in besserer Obhut als in den Händen seiner Bürger? Wieso nicht dafür plädieren, den Wehrdienst weniger als eine hysterische Reaktion auf das Zeitgeschehen zu sehen und mehr als völligen Normalzustand? Immerhin ist er auch unter den stabilsten und erfolgreichsten Gesellschaften alles andere als eine Anomalie.

Das endlose Durchreichen militärischer Verantwortung muss ein Ende haben: Demokratie, Freiheit und Verteidigung gehören zusammen. Ein paar Monate mit Gleichaltrigen bei der Bundeswehr zu verbringen, ist noch lange kein Kriegseinsatz. Eine starke Reserve aufzubauen, macht einen Krieg unwahrscheinlicher und zieht ihn nicht etwa magisch an. Geben wir diesen zentralen Aspekt der der Souveränität nicht länger aus der Hand: Es ist unser Land.

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