
Ex-Kanzlerin Merkel (CDU) würde das neue Buch des bekannten Politikwissenschaftlers Werner J. Patzelt nicht lesen – weil sie es „nicht hilfreich“ fände. Mit solchen Worten hatte sie 2010 Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ weggewischt. Um dann im November 2024 zum Kaufpreis von 42 Euro (mittlerweile auch für 4 Euro erhältlich) selbst ein 736-Seiten-Buch mit dem rabulistischen Titel „Freiheit“ auf den Markt zu bringen. Ein Buch, das allenfalls Balsam für die aus der Zeit gefallenen ewiggestrigen Merkelianer ist. Merkel und ihre Parteigänger hätten Sarrazin wirklich lesen sollen. Dann wäre Merkel vor allem mit ihrer Politik der offenen Grenzen nicht zur Ur-Mutter der AfD geworden. Dann hätte sich die CDU nicht – ohne CSU – mittlerweile von oben den 20 Prozent genähert.
Ob führende CDU-Leute Patzelts Mitte Februar 2025 erschienenes Buch über das „blaue Wunder“ AfD in die Hand genommen haben? Man weiß es nicht. Immerhin haben sich aktuell drei CDU-Leute der ersten Reihe vorsichtig an die Frage herangetastet, wie man zukünftig mit der in Umfragen jetzt oft auf Platz 1 stehenden AfD umgehen solle. CDU-Vize Jens Spahn meinte kürzlich, man solle die AfD bei organisatorischen Fragen behandeln wie andere Parteien auch. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) pflichtete ihm bei. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) will im Streit mit der AfD vermitteln.
Späte Einsichten! 2017 übrigens erzielte die AfD bei der Bundestagswahl 12,6 Prozent und wurde – erstmals in den Bundestag eingerückt – zur stärksten Oppositionspartei gegen die schwarz-rote „GroKo“. Am 15. November 2018 wollte Noch-Nicht-CDU-Chef Friedrich Merz die AfD halbieren.
Das Ergebnis dieser „Halbierung“ ist bekannt: Das mathematische Multiplikations- und Divisionszeichen scheinen verwechselt worden zu sein. Die AfD wurde bei der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 mit 20,8 Prozent zweitstärkste Partei; bei der „Sonntagsfrage“ rangiert sie je nach Umfrageinstitut gleichauf mit CDU/CSU bei 26 Prozent oder gar mit einem Prozentpunkt vor CDU/CSU. Merz wurde nach zwei erfolglosen Anläufen im Dezember 2018 und Januar 2021 erst im Februar 2022 Vorsitzender der CDU. Nun bricht er auf, zusammen mit der SPD und mit gemeinsamen 44,9 Prozent Wählerstimmen Bundeskanzler zu werden. Sein politisches Schicksal hat er an das Fortbestehen der Brandmauer gegen die AfD gebunden.
Die Merz-Koalition bleibt also gefangen in der Brandmauer-Wagenburg. Die ganz linken Parteien (SPD, Grüne, Links-Partei) halten Merz erpresserisch am kurzen Zügel. Heißt: Bloß keinen Parlamentsposten (Vizepräsident, Ausschussvorsitz) für die zweitstärkste Partei! Wenn die AfD sagt „2 plus zwei ist 4“, dann widersprecht und sagt, das ist 5. Folge: Die AfD wird weiter zunehmen. Nicht weil die komplette AfD-Wählerschaft zur glühenden AfD-Truppe geworden wäre, sondern weil es vielen Wählern dämmert, dass man nicht weiterhin mehr als zehn Millionen Wähler als angebliche „Nazis“ aussortieren kann.
Dass Patzelt von der AfD als „blauem Wunder“ schreibt, hat mit der von der AfD mittlerweile in Anspruch genommenen Farbe blau (gegen schwarz, rot, dunkelrot, gelb, grün) zu tun, ist aber schelmisch auch eine Anspielung auf die als „Blaues Wunder“ genannte Elbebrücke in Dresden gedacht. Dresden – das war von 1991 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2019 Patzelts Wirkungsstätte als Politikwissenschaftler. Unter anderem hatte er sich zuletzt einen Namen gemacht mit einer detaillierten Analyse der PEGIDA-Bewegung.
Von 1994 bis 2019 war Patzelt CDU-Mitglied, zuletzt sogar als Mitglied der Programmkommission der sächsischen CDU. Patzelt kann insofern aus dem Vollen schöpfen, wenn er die Union vor einer Repräsentationslücke rechts der CDU warnt und ihr den Rat gibt, die AfD politisch und programmatisch zu stellen. Den bisherigen Umgang der arrivierten Parteien mit der AfD hält Patzelt jedenfalls für missraten, kontraproduktiv, planlos, töricht, stümperhaft, intellektuell dürftig, selbstgefällig und im Endeffekt erfolglos.
Das „magisch-rituelle Haltung zeigen“ gegen die AfD und deren „Anbräunen“ hätten nichts gebracht, sondern die AfD – auch deren weitere Radikalisierung – befördert. Immer mehr Wähler würden deshalb Deutschlands Demokratie misstrauen. Wörtlich schreibt Patzelt: „Loswerden wollen AfD-Wähler weniger die Demokratie als vielmehr ihre gouvernantenhafte Politiker- und Journalistenschaft. Die belehrt unentwegt, weist zurecht und stellt vor die Wahl, entweder den Mund zu halten oder ausgegrenzt zu werden.“
Werner J. Patzelt, Deutschlands blaues Wunder. Die AfD und der Populismus. LMV, Paperback, 320 Seiten, 26,00 €.