
Gleich zu Beginn der Sommerpressekonferenz mit dem Kanzler aus der CDU, der inzwischen vielleicht Angela Merkels treuester Lordsiegel-Bewahrer ist, gelingt Friedrich Merz ein heftiges Déjà-vu. Weil er nichts verändern will, aber alles neu aussehen und sich neu anhören soll, verkündet er stolz den Satz: „Wir haben die Wende eingeleitet.“ Und plötzlich wechselt man zwar nicht den Ort, dafür aber umso mehr die Zeit.
Egon Krenz, der gerade Generalsekretär der SED geworden war, äußerte am 19. Oktober 1989 ebenfalls in Berlin: „Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen.“ Und als Regierungschef der DDR am 4. November 1989 verkündete er vollmundig: „Die politische Wende, die wir eingeleitet haben, erfasst inzwischen alle Bereiche unserer Gesellschaft.“ Man wusste nicht recht, war das Arroganz, war das Unkenntnis, war das Zynismus oder eine Mischung aus all dem? Die DDR war pleite, ein neuer Milliarden-Kredit nicht in Sicht, obwohl SPD und Grüne sicher dafür gewesen wären, um den Sozialismus zu erhalten, der nach Steinmeiers Worten 1945 mit Walter Ulbricht „endlich … in die Heimat“ von Karl Marx zurückkehrte. Es war so schön, im alten bösen Kapitalismus zu leben und den schönen Sozialismus im Osten als Ort progressiver Transzendenz zu erhalten.
Doch nichts wäre geschehen, wenn nicht immer mehr Menschen im Osten gegen eine dysfunktionale Elite auf die Straßen gegangen wären, weil sie diese Leute nicht mehr sehen und ihre Geschicke selbst bestimmen wollten. Dass Egon Krenz so tat, als hätte die Partei die Veränderung, als hätte er die Wende eingeleitet, quasi per ordre de mufti, erbitterte und sorgte für Wut, Zorn und schlechte Stimmung. Die Bürger fühlten sich kalt und arrogant verhöhnt. Und was hatte sich denn geändert?
Krenz sprach über die viele Arbeit, die nun vor ihm läge. Und erstaunte alle mit der Erkenntnis: „Allererste Resultate der Arbeit liegen vor. Sie mögen nicht schnell genug kommen und für manchen nicht weit genug reichen. Aber sie machen unbestreitbar eins deutlich: Wir gehen nach vorn, unaufhaltsam. Wir sind im Begriff, Neues zu erschließen in der Politik, in der Wirtschaft, im gesellschaftlichen Zusammenleben, in der demokratischen Ausgestaltung unseres Staatswesens. Ein Zurück gibt es nicht. Davon zeugen unter anderem der Entwurf eines Reisegesetzes, der in Kürze veröffentlicht wird, die Präzisierung des § 213 des Strafgesetzbuches, die Berufung einer staatlichen Kommission zur Ausarbeitung eines Mediengesetzes, eine Verordnung zur Veröffentlichung von Umweltdaten und nicht zuletzt die vom Staatsrat der DDR beschlossene Amnestie.“ Krenz hatte kaum angefangen, da glaubte er, stellten sich schon erste Erfolge ein: „Allererste Resultate der Arbeit liegen vor.“ So etwas gelingt natürlich nur, wenn man die „Wende einleitet“.
Und auch Friedrich Merz beobachtet, kaum dass er die Wende eingeleitet hat, dass die Stimmung sich verbessert, „inländische und ausländische Investoren“ interessieren sich für Deutschland. Schließlich habe er, Friedrich Merz, die ersten Wachstumsimpulse gesetzt mit dem Sofortprogramm für Investitionen und dem Sondervermögen für Infrastruktur. Mit sorgenvoller Miene gesteht er, was er ohnehin nicht leugnen kann, dass diese Koalition dafür Rekordschulden aufnehmen wird. Aber natürlich pumpt Friedrich Merz fast eine Billion Euro auf Kosten der Bürger gegen seine eigene innerste Überzeugung. Weiß Gott, der Mann tut sich schwere Gewalt an, weil er möchte, dass wieder in Deutschland investiert wird.
Moment mal, hatte er nicht gerade gesagt, dass inländische und ausländische Investoren gern in Deutschland investieren möchten? Also doch nur, wenn der Staat, der berühmte Habecksche Investor erster Ordnung, investiert? So wie bei Northvolt etwa? Vor allem aber verbessert sich gerade die Stimmung im Land, weil Merz „private Haushalte und öffentliche Unternehmen“ entlastet. Zum Beispiel bei den Energiekosten. So sagt er. Da werden die privaten Haushalte wirklich glänzend entlastet, und zwar werden sie wie viele mittelständische Unternehmen auch von der angedrohten Entlastung entlastet. Das ist ja der Sinn rot-schwarzer Wirtschaftspolitik: Damit die einen entlastet werden können, werden die anderen von der Entlastung entlastet.
Der Wende-Kanzler Merz preist sich, dass er entschlossen den Bürokratieabbau angeht, zum Beispiel indem nicht nur das überflüssige Entwicklungshilfeministerium (BMZ) nicht gestrichen wird, sondern ein weiteres völlig überflüssiges Ministerium erst geschaffen wird. Als Bürokratieabbau fasst Merz die Beschleunigung bei Genehmigungsverfahren für Windkraftanlagen und bei der Wasserstoffinfrastruktur. Beschleunigung bedeutet für Merz die Kappung von Einspruchsrechten der Bürger, der Städte und Gemeinden. Die rotschwarze Regierung versteht unter Bürgerrechten also nur Bürokratie, die es abzubauen gilt. Unter diesen Voraussetzungen erstaunen natürlich die Kandidaturen von Brosius-Gersdorf und Kaufhold, die letztlich auch meinen, dass Grundrechte der Bürger dem Machtinteresse der dysfunktionalen Eliten zu weichen haben, nicht.
Interessant ist, dass der Wende-Kanzler den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes durch die weitere Beschleunigung der Verspargelung der Landschaft, durch die Gefährdung der Energiesicherheit und die weitere Verteuerung der Energie vorantreiben will, damit am Ende aber nur ein Energie- und Industriemuseum schafft. Unterdessen fällt die Stahlproduktion in Deutschland im 1. Halbjahr 2025 auf ein historisches Tief. Laut der Wirtschaftsvereinigung Stahl sank die Rohstahlproduktion um fast 12 Prozent auf 17,1 Millionen Tonnen. Die Hauptgeschäftsführerin Wirtschaftsvereinigung Stahl, Kerstin Maria Rippel, kommt laut dpa zu dem Schluss: „Der Produktionseinbruch in unserer Branche zeigt, wie dramatisch es um den Industriestandort Deutschland steht.“
Das muss die verbesserte Stimmung sein, von der Friedrich Merz spricht. Die chemische Industrie flieht derweil aus Deutschland. Sechs Chemiekonzerne wollen dauerhaft sechs große Anlagen schließen. VW kämpft mit einer Krise, die sich noch weiter verstärken wird, weil politisch verursacht die falsche Konzernstrategie verfolgt wird.
Doch jetzt geht der Kanzler erstmal in Urlaub. Und wenn er aus dem Urlaub zurückkehrt, wird er uns alle in der Beherrschung der Raute überraschen. Zwar will Wirtschaftsministerin Katharina Reiche eine neue Konzeption für eine moderne Wirtschaftspolitik vorlegen, was ihr auch gelingen wird, vor allem eine Wirtschaftspolitik, die in die richtige Richtung weist, doch nach allem, was man von der SPD weiß und man von Kanzler Merz im Sommerinterview gehört hat, wird sie eine marktwirtschaftliche Konzeption kaum durchsetzen können, denn auch Friedrich Merz ist die Wende weg von Ludwig Erhard gelungen – Raute sei dank. Und wenn das alles nicht hilft, kann die volle Wiederherstellung der Marktwirtschaft ja von zwei Verfassungsrichterinnen, die heute noch Bürger, Medien und Abgeordnete sich erfrechen, abzulehnen, juristisch untersagt werden.