
Zwei Jugendliche, beide jünger als 14 Jahre alt, wurden am selben Tag unabhängig voneinander zu Messerstechern. Am 22. Mai stach in einer Grundschule in Berlin-Spandau der 13-Jährige Alan-Said einem zwölfjährigen Mitschüler in den Oberkörper. In der Remscheider Innenstadt in Nordrhein-Westfahlen rammte ein 11-jähriger Iraker während einer Auseinandersetzung ein Küchenmesser ins Bein eines 13-jährigen Deutschen. Beide Opfer wurden schwer verletzt, befinden sich laut Polizeiangaben aber jeweils in einem stabilen Zustand. Diese Taten sind erschütternd – aber keine Einzelfälle.
Genau vor einer solchen Entwicklung warnte der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Klaus Riedel schon im letzten Jahr. Damals betonte er gegenüber „Wa.de“: „Da kommt eine ganze Wucht auf uns zu.“ Riedel beobachte seit der Corona-Pandemie immer mehr Kinder mit „Impulskontrollstörungen“ und abnehmender „Empathiefähigkeit“. Riedel erkennt dies als Folge der Corona-Pandemie: „Krisen erhöhen den Stress und sorgen dafür, dass innerer Halt verloren geht“, sagte der Experte.
In der Grundschule in Berlin-Spandau hat es sich nicht um eine kleine Rauferei zwischen Jungs gehandelt. Alain-Said, ein Junge mit deutscher Staatsbürgerschaft und kurdisch-arabischem Hintergrund, kam in die Umkleidekabine der Schulsporthalle und stach zu. Einfach so. Das berichtet Katja Batinic, die Mutter eines Zeugen gegenüber der Welt. Laut Batinic habe es an diesem Tag keine Vorgeschichte gegeben, auch wenn bekannt gewesen sei, dass die beiden Schüler sich nicht besonders mochten. Alain-Said habe erst seit kurzem diese Grundschule am Weinmeisterhorn in Berlin-Spandau besucht. Er sei auffällig gewesen, so Batinic. Es habe auch mit anderen Kindern Streit gegeben, aber der war „nur verbal“.
Die Schule und die Berliner Schulbehörden müssen nun klären, wie es sein kann, dass ein 13-Jähriger mehrmals damit droht, ein anderes Kind schwer zu verletzen – und nichts passiert; wie es sein kann, dass er dann sogar ein Küchenmesser in die Schule mitbringt, als wäre es ein Pausenbrot – ohne dass Eltern oder Lehrer dies bemerken? Und er dann willkürlich ein Opfer aussucht und einsticht?
Solche Taten scheinen vor allem deshalb unbegreiflich, weil Menschen ein psychologisch und biologisch verankertes Hemmnis haben, anderen Menschen wehzutun: Wegen ihrer Empathie und Moral. Und die sind nicht nur rein rational vorhanden. Studien legen nahe, dass es eine neurobiologische Basis dafür gibt. Denn wenn Menschen mit anderen empathisch mitfühlen, aktiviert das im Gehirn dieselben Netzwerke, die auch bei eigenem Schmerz regieren. Das fördert prosoziales Verhalten und hemmt aggressives Verhalten – eigentlich. So konnte der Psychologieprofessor von der Harvard-Universität, Joshua Greene, gemeinsam mit seinen Kollegen zeigen, dass emotionale Reaktionen dafür sorgen, dass es uns Menschen schwerer fällt, gewaltvoll zu handeln oder gar aktiv zu töten. Und das selbst dann, wenn wir mit einer solchen Tat andere Leben retten könnten.
Solche Motive, vor allem wenn Opfer entmenschlicht werden, kann dazu beitragen, dass das angeborene Widerstreben, anderen wehzutun, gehemmt oder gar aufgehoben wird. Zu diesem Schluss kam der mittlerweile verstorbene kanadische Psychologe, Albert Bandura. Er sagte, dass „moralische Handlungsfähigkeit“ in eine soziokognitive Theorie des eigenen Selbst eingebettet ist. Dieses Selbstkonzept umfasst selbstorganisierende, proaktive, selbstreflektierende und selbstregulierende Mechanismen, die auf persönlichen Standards beruhen. Hält man diese eigenen persönlichen Standards nicht ein, dann „sanktioniert“ man sich selbst. Man bestraft sich quasi selbst. Aber laut Bandura müssen diese Mechanismen, die moralisches Verhalten fördern, erst aktiviert werden, damit sie bei der Selbstregulation helfen. Gleichzeitig können diese Mechanismen von unmenschlichem Verhalten abgekoppelt werden, so Bandura weiter: Etwa durch beschönigende Sprache, Rechtfertigungen oder indem die Verantwortung verlagert wird oder die Opfer entmenschlicht werden. So werde das unmenschliche Verhalten kognitiv umstrukturiert. Es wird in ein gutartiges oder gar würdiges Verhalten umgedeutet.
Eigentlich sollte dies ein Teil der elterlichen Erziehung sein. Denkt man. Aber eine moral- und wertebasierte Erziehung bieten nicht alle Eltern, wie die Vorfälle am Donnerstag zeigen. Vor allem in sozialen Brennpunkten findet eine solche Erziehung nur selten statt. Für Kinder, die in solchen Bedingungen leben, bietet „Die Arche“ einen Schutzraum. Kinder und Jugendliche können in den Einrichtungen dieses christlich Projekts kostenlos essen, ihre Freizeit mit Basteln, Musizieren oder Spielen verbringen oder Ausflüge machen und erhalten Hilfe bei ihren Hausaufgaben. Außerdem bietet „Die Arche“ Beratungsgespräche und Austauschmöglichkeiten für Eltern an. In einer Videobotschaft äußert sich „Arche“-Gründer Bernd Siggelkow zur aktuellen Gewaltstatistik und sieht den Grund für den Anstieg darin, dass den Kindern eine Perspektive fehlt:
„Wir haben Kinder in unseren Einrichtungen in der Arche, (…) die perspektivlos sind, die vielleicht in der fünften Klasse schon wissen, dass sich, wenn sie erwachsen sind, ihr Kreis weiterdreht, nämlich dass sie Bürgergeldbezieher bleiben. Und diese Aggressionen schlagen die Kinder aus sich raus.“
Siggelow kritisiert, dass es immer mehr Brennpunktschulen gibt: „Dann müssen wir uns nicht wundern, dass es immer mehr Kinder gibt, die in großen Herausforderungen leben.“ Und auch die Straße wird „immer härter“: Laut Siggelkow gehen viele Kinder mittlerweile mit Messern nach Hause, weil sie Angst haben, überfallen zu werden. Also praktisch als Schutzbewaffnung. Der Arche-Mitarbeiter Wolfgang Büscher sagt gegenüber Nius, dass somit ein Teufelskreis entsteht. Denn wenn ein Kind ein Messer dabeihabe, würde es das auch irgendwann einsetzen. Und was dann die Folge ist, zeigen die Vorfälle des vergangenen Donnerstags: Zwei schwer verletzte Kinder und hunderte traumatisierte Kinder. Immerhin haben sämtliche Schüler der Grundschule in Berlin-Spandau mitbekommen, was in der Umkleidekabine ihrer Schule geschehen ist. Eine 11-jährige Schülerin hat dem Opfer sogar die blutende Schnittwunde am Hals zugehalten, bis die Rettungskräfte eintrafen. Das berichtete der Tagesspiegel.
Deutschland braucht dringend mehr Psychologen, Pädagogen und Ehrenamtliche, die sich um die Kinder und Jugendlichen kümmern, vor allem in Brennpunkten. Das findet jedenfalls Bernd Siggelow: „Wenn die Kriminalstatistik solche erschreckenden Zahlen benennt, müssen wir etwas tun. Und zwar schneller als gestern. Heute müssen wir in unsere Kinder investieren, damit sie morgen eine bessere Zukunft haben.“