Wer hat Angst vor gesundem Menschenverstand?

vor 28 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

In letzter Zeit ist mir aufgefallen, wie häufig der gesunde Menschenverstand von Lehrkräften, insbesondere an Universitäten, negativ dargestellt wird. Auch von den kulturellen Eliten in den Medien wird er mit Verachtung gestraft. Der gesunde Menschenverstand gilt häufig als von Natur aus fehlerhaft und wird mit einer naiven Hinnahme unhinterfragter Meinungen gleichgesetzt. Stets wird er als Mittel zur Überbringung von Vorurteilen abgetan. Wer „beschuldigt“ wird, die Welt durch die Brille des gesunden Menschenverstands zu sehen, gilt als potenzielle Bedrohung für Fachwissen und Wissenschaft. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Populismus geht einher mit der Verurteilung seiner ideologischen Verbundenheit mit dem gesunden Menschenverstand. Populistische Politiker politisieren angeblich den gesunden Menschenverstand und „nutzen” oder „manipulieren” seinen Einfluss auf Teile der Wählerschaft. Die Appelle der Populisten an den gesunden Menschenverstand werden unweigerlich als unaufrichtige demagogische Taktik hingestellt.

Kritiker des gesunden Menschenverstands vertreten die Ansicht, dass diese Sensibilität konservative oder populistische Narrative begünstige und daher ihre Akzeptanz durch Millionen von Bürgern ein Hindernis für Reformen und sozialen Wandel darstelle. Wie ich kürzlich in einem Essay dargelegt habe, sind Angriffe auf den gesunden Menschenverstand oft durch Feindseligkeit gegenüber demokratischen Entscheidungsprozessen und Angst vor den Meinungen der Wählermehrheit motiviert. Ein Kritiker des gesunden Menschenverstands behauptet, dass dieser abgelehnt werden sollte, weil er „oft im Dienste des Konservatismus, Populismus oder Mehrheitsherrschaft steht“. Diese ausdrückliche Ablehnung der Rolle der Mehrheit in der demokratischen Entscheidungsfindung ist ein Beispiel für das, was man am besten als Demophobie bezeichnen kann.

Tatsächlich bietet der gesunde Menschenverstand aufgrund seiner Sensibilität für den Sinn des Alltagslebens oft eine zuverlässige Form des Wissens. Aus diesem Grund war der gesunde Menschenverstand historisch gesehen eine Autoritätsquelle und wird auch heute noch als epistemische Grundlage für Urteils- und Entscheidungsfindung angesehen. Die epistemische Autorität des gesunden Menschenverstands beruhte auf seiner Zuverlässigkeit als vertrauenswürdige Quelle von Wissen und praktischer Weisheit. Er wurde über Generationen hinweg durch die Erfahrungen der Gemeinschaft erprobt und ist eine kulturell gewachsene Errungenschaft. Er verkörpert das Erbe eines bewährten und historisch validierten Mediums, um die reale Alltagswelt der Menschen zu verstehen.

Als gewachsene Errungenschaft ist der gesunde Menschenverstand ein historisches Phänomen, das die sich wandelnden Erfahrungen der Gesellschaft widerspiegelt. Das derart vermittelte Wissen ermöglicht es Gemeinschaften, sich mit den moralischen und praktischen Problemen des Alltags auseinanderzusetzen. Obwohl er Wissen verkörpert, das durch Tradition und das kulturelle Erbe der Gesellschaft gewonnen wurde, ist er von Natur aus empirisch und entwickelt sich durch seine Auseinandersetzung mit den Problemen, die eine sich verändernde Welt mit sich bringt. Anders als seine Kritiker behaupten, die den gesunden Menschenverstand als wissenschafts- und expertenfeindlich abtun, hat er eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Wissenschaft und des wissenschaftlichen Denkens gespielt.

Die Beziehung zwischen gesundem Menschenverstand und Wissenschaft wurde von Howard Sankey in seinem Aufsatz „Scientific Realism and the Conflict with Common Sense” wie folgt erklärt: „Ich möchte behaupten, dass der gesunde Menschenverstand die Grundlage bildet, auf der die Wissenschaft basiert. In unserem alltäglichen Umgang mit den physischen Objekten, die uns umgeben, nutzen wir routinemäßig unsere Sinne, um zu bestimmen, wie die Dinge in der Welt um uns herum stehen. Genau diese Nutzung unserer Sinneskräfte ist an der Sammlung der Beobachtungsdaten beteiligt, die die Grundlage für die Wissenschaften bilden. Selbst wenn Instrumente eingesetzt werden, um die Sinne zu erweitern, wird unser üblicher Wahrnehmungsapparat zum Auslesen der Ergebnisse der Instrumente verwendet. Angesichts der Bedeutung des gesunden Menschenverstands beim Schaffen der Beobachtungsgrundlage der Wissenschaft bin ich der Meinung, dass wissenschaftlicher Realismus und grundlegender gesunder Menschenverstand gut zueinander passen. Es muss keinen Konflikt zwischen Wissenschaft und gesundem Menschenverstand geben.” Alarmistische Warnungen vor der Bedrohung, die vom gesunden Menschenverstand für die Wissenschaft ausgeht, übersehen die Tatsache, dass diese beiden unterschiedlichen Formen des Wissens problemlos harmonisch nebeneinander existieren können, solange sie sich mit Problemen befassen, die in ihren Erfahrungsbereich fallen.

Kritiker des populistischen gesunden Menschenverstands sind süchtig nach dem Vorurteil, dass dessen Ziel darin besteht, die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft und Expertentum zu untergraben. Einer anti-populistischen Ideologin zufolge „geht es Populisten nicht nur darum, das Verständnis gewöhnlicher Menschen von der Welt zu feiern, wenn sie den gesunden Menschenverstand als Tugend preisen. Sie wollen eine Weltanschauung fördern, die überprüfbare Fakten ablehnt, unsere Vorurteile übersteigert und den Weg für noch mehr Propaganda ebnet“. Die Behauptung, dass der gesunde Menschenverstand ein Feind der Wissenschaft sei, wird jedoch von Forschern, die sich mit diesem Thema befassen, in Frage gestellt. Wie Sankey feststellt, „ist der gesunde Menschenverstand epistemologisch robust genug, um sowohl für wissenschaftliches Wissen als auch für wissenschaftlichen Realismus eine Grundlage zu bilden“.

Warum also wird dem gesunden Menschenverstand so viel Feindseligkeit entgegengebracht? Meistens liefert der gesunde Menschenverstand die zuverlässigste Form des Wissens, um mit den Problemen des Alltags umzugehen. Natürlich liegt er nicht immer richtig. Wie andere Formen des Wissens – beispielsweise die Wissenschaft – kann auch die Erkenntnistheorie des gesunden Menschenverstands die verschiedenen Dimensionen einer gegebenen Realität nicht immer erfassen und zu irreführenden Schlussfolgerungen führen. Das Wichtige am gesunden Menschenverstand ist jedoch nicht nur das Wissen, das er vermittelt, sondern seine Fähigkeit, Ideen und Praktiken auszudrücken und zu kommunizieren, die auf den Erfahrungen einer Gemeinschaft basieren. Es handelt sich um eine Sensibilität, die nicht von Einzelpersonen, sondern von einer Gemeinschaft hervorgebracht wird. Deshalb spricht man im Englischen Sprachgebrauch von „common sense“! Darüber hinaus ist der gesunde Menschenverstand im Gegensatz zur Wissenschaft in der Lage, diesen Erfahrungen einen Sinn zu verleihen und die Menschen somit zu befähigen, sich mit vielen der existenziellen Fragen auseinanderzusetzen, mit denen sie konfrontiert sind.

Die Weitergabe von allgemein anerkannten Überzeugungen über Moral, Religion und praktische Fragen unterstützt die Sozialisation der Gemeinschaftsmitglieder. Sie bildet die Grundlage für die selbstverständlichen Annahmen der Menschen über das Verhalten im Alltag und stellt die Basis für kommunikative Solidarität dar. Ohne die implizite Orientierung durch den gesunden Menschenverstand würden Alltagsroutinen zu einer unaufhörlichen Herausforderung werden. Das Wichtige am „common sense“ ist das Wort „gemeinsam“. Gesunder Menschenverstand ist nicht einfach nur die Vernunft, die jeder Einzelne besitzt. Durch seine Anwendung durch die Menschen entsteht ein wichtiges soziales Band. Die Philosophin Hannah Arendt hat den gesunden Menschenverstand als „lebenswichtige Form des sozialen Kitt“ bezeichnet. Dieses Band basiert auf gemeinsamen Vorstellungen und den alltäglichen Erfahrungen gewöhnlicher Menschen. Historisch gesehen diente der gesunde Menschenverstand als Grundlage des Gewohnheitsrechts. Deshalb berufen sich Richter auch heute noch häufig auf den gesunden Menschenverstand, wenn sie Gesetze auslegen oder über Fälle entscheiden. Im Idealfall hängen ihre Urteile davon ab, was ein Durchschnittsbürger als vernünftig oder vorhersehbar erachten würde. Das Gewohnheitsrecht funktionierte, weil „der gesunde Menschenverstand des Richters nicht weit vom gesunden Menschenverstand der breiten Masse entfernt war”. Leider wird diese Beziehung zwischen dem Gesetz und der breiten Masse durch die Verdrängung des gesunden Menschenverstands durch die technokratische und administrative Wende des Justizsystems allmählich untergraben.

Der gesunde Menschenverstand ist zum Angriffsziel der technokratischen Führungselite geworden, weil er implizit ihr Dogma der Wissenschaftsgläubigkeit in Frage stellt. Nicht Wissenschaft, sondern Wissenschaftsgläubigkeit! Die Wissenschaftsgläubigkeit zielt darauf ab, das öffentliche Leben zu entpolitisieren und die Probleme der Gesellschaft dem Diktat des Expertentums zu unterwerfen. Infolgedessen werden die Ansichten und Überzeugungen der Öffentlichkeit durch die Meinung von Experten übertrumpft. Dieser Szientismus versucht ständig, die Autorität der Wissenschaft auf Bereiche des Lebens auszuweiten, in denen sie keine nützliche Rolle spielt. So gibt es die Wissenschaft vom Glück, die Wissenschaft von Beziehungen, die Wissenschaft von Freundschaft. Man kann sogar einen Bachelor of Science im Fach „Life Coaching“ erwerben.

Leider wird der Szientismus heute dazu benutzt, verschiedene politische Maßnahmen und Behauptungen aller möglichen Institutionen zu legitimieren. Infolgedessen dominieren „Evidenz“ oder vielmehr evidenzbasierte Politik, die angeblich die Autorität der Wissenschaft genießt, die moderne politische Landschaft. Heute werden politische Maßnahmen nicht danach beurteilt, ob sie gut oder schlecht sind, sondern danach, ob sie evidenzbasiert sind.

Die Politisierung der Wissenschaft hat zum Aufstieg des Szientismus geführt, der darauf abzielt, den wissenschaftlichen Diskurs auf unsere persönlichen, kulturellen und sozialen Erfahrungen auszuweiten, wo eigentlich andere Formen der nicht-wissenschaftlichen Reflexion erforderlich wären. Aus diesem Grund gibt es heute alles Mögliche, von der „Wissenschaft der Elternschaft“ über die „Wissenschaft des Glücks“ bis hin zur „Wissenschaft des spirituellen Lebens“. Der Versuch der Wissenschaft, die Lebenswelt von Gemeinschaften zu kolonisieren, stellt die epistemische Autorität des gesunden Menschenverstands direkt in Frage. Eine solche Herausforderung schafft weit mehr Probleme, als sie löst, da Fragen, die alltägliche menschliche Beziehungen und Moral betreffen, sich nicht für Experten-Interventionen eignen. Das Verhalten in menschlichen und gemeinschaftlichen Beziehungen stützt sich auf die Erkenntnisse des gesunden Menschenverstands.

Durch die Anwendung des gesunden Menschenverstands können Gemeinschaften Sinn in den Schwierigkeiten finden, mit denen sie konfrontiert sind. Die Wissenschaft ist besonders wenig hilfreich dabei, menschlicher Erfahrung Bedeutung zu verleihen. Anstatt zu versuchen, den Problemen, mit denen wir konfrontiert sind, durch Reflexion und Debatte einen Sinn zu geben, betrachten Regierungen die Wissenschaft heute als einzige Quelle der Wahrheit. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind natürlich eine nützliche Ressource für Entscheidungsträger. Aber nicht jede Forschungserkenntnis ist eine „Evidenz”, der direkt zur Gestaltung einer neuen Politik herangezogen werden kann. Belege müssen geprüft, interpretiert und mit Sinn versehen werden, bevor sie zu einer verlässlichen Handlungsgrundlage werden können. Die Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse für politische Zwecke ist besonders problematisch im Bereich der Sozialpolitik, wo die Probleme der Menschen kontextspezifisch sind und durch verschiedene Einflüsse und Faktoren vermittelt werden. Aus diesem Grund hat sich die sogenannte evidenzbasierte Politik in der Vergangenheit weder als wirksamer noch als weniger wirksam erwiesen als eine Politik, die von einer offener politischen Agenda bestimmt wird.

Heute ist es wichtiger denn je, den Wert des gesunden Menschenverstands hochzuhalten. Warum? Weil der gesunde Menschenverstand nicht nur verspottet wird, sondern auch einem heftigen ideologischen Angriff ausgesetzt ist. Das Wissen, das Menschen aus ihren Alltagserfahrungen gewonnen haben, wird häufig so stark in Frage gestellt, dass selbst die banalsten Probleme des Lebens angeblich den Einsatz von Experten erfordern. Das Laienwissen der Menschen wird ständig als wenig nützlich für den Umgang mit unserer angeblich immer komplexer werdenden Welt abgetan. Es gibt eine ständig wachsende Zahl von Mentoren, Erziehungsberatern, Sexualtherapeuten und Lebensberatern, deren bloße Existenz die Relevanz des gesunden Menschenverstands in Frage stellt. Selbst die vernünftigen Ratschläge von Großmüttern zur Kindererziehung werden durch Expertenwissen entwertet.

Über Bande wird die Feindseligkeit gegenüber dem gesunden Menschenverstand durch einen starken antidemokratischen Impuls motiviert. Die Behauptungen von Beziehungsexperten sind schon schlimm genug, aber wenn Experten Einfluss auf die Politik nehmen, wird die Demokratie selbst in Frage gestellt. Der Versuch, dem gesunden Menschenverstand eine zentrale Rolle in der demokratischen Entscheidungsfindung abzusprechen, hat seinen Ursprung in Platons Ansatz, sich eher auf politische Experten als auf die Weisheit des Volkes zu verlassen. Platon war besorgt über die Autorität, die das Volk im demokratischen Athen der Antike genoss, und behauptete, dass den Bürgern das Fachwissen und das Urteilsvermögen fehlten, die für die Regierung eines Stadtstaates erforderlich waren. In der Formulierung des Sokrates behauptete Platon, dass Politik nicht Sache des Volkes, sondern der Experten sei.

In seinem Dialog mit Protagoras beklagte Sokrates, dass sich die Gemeinschaft beim Bau eines Gebäudes oder eines Schiffes auf erfahrene Architekten oder Schiffbauer verlässt, während bei der Verwaltung des Staates jeder Bürger das gleiche Mitspracherecht hat. Er fügte hinzu: „Wenn aber über Verwaltung der Stadt etwas zu ratschlagen ist, so steht jeder auf und erteilt ihnen seinen Rat: Zimmermann, Schmied, Schuster, Krämer, Schiffsherr, Reiche, Arme, Vornehme, Geringe, einer wie der andere.“

Sokrates hatte keinen Zweifel daran, dass ‚das, was die meisten Menschen denken‘ in politischen Fragen weit weniger wichtig sei als die Ansichten des Einen, der die anstehenden Probleme wirklich versteht – des Experten. Aus dieser Perspektive war die Demokratie gefährlich, weil sie den Menschen die Möglichkeit gab, mit ihrem gesunden Menschenverstand Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Die Feindseligkeit gegenüber der Anwendung des gesunden Menschenverstands ist die zeitgenössische Version dieses antidemokratischen Impulses.

Im Gegensatz zur Sichtweise der heutigen Anhängern Platons ist es wichtig, den gesunden Menschenverstand als wertvolle Ressource zu bewahren, auf die die demokratische Politik zurückgreifen kann. Der gesunde Menschenverstand der normalen Leute liefert die Weisheit, die für das Gedeihen eines reichhaltigen Gemeinschaftslebens notwendig ist, das seinerseits wiederum für das Gedeihen der Demokratie erforderlich ist. Was wir gemein haben, hält uns zusammen und schafft die Grundlage für demokratische Solidarität.

Dieser Beitrag ist zuerst auf Frank Furedis Substack erschienen.

Frank Furedi @Furedibyte ist geschäftsführender Direktor des Think-Tanks MCC-Brussels, Autor zahlreicher Bücher und politischer Kommentator der Gegenwart. Mehr von Frank Furedi lesen Sie in den Büchern „Die sortierte Gesellschaft – Zur Kritik der Identitätspolitik“, „Sag was du denkst – Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture“ und in seinem neuen Buch: „The war against the past – Why the west must fight for its history.”

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