
Man braucht Geduld, um im größten Terrorprozess der Nachkriegszeit, der seit einem Jahr in Frankfurt über die Bühne geht, auszuharren. Manchmal wird man allerdings belohnt, dann wird es lebendig. Mitte der Woche war es so weit. Ein Anwalt der Verteidigung war bei seinen Nachforschungen über die geschäftlichen Aktivitäten des für die Anklage wichtigen Zeugen M. C. R. auf dessen Tätigkeit im Kaffeehandel gestoßen und hatte auf die Frage, ob R. dabei denn Geld verdient hätte, die rätselhafte Antwort erhalten: „gewissermaßen“.
Um klarzumachen, was damit gemeint war, bat der Anwalt um die Erlaubnis, dem Gericht einige Dokumente auf den Tisch zu legen. Die erhielt er, und jetzt wurde es lebendig im großen Saal. Gefolgt von der Schar seiner Kollegen trat der besagte Anwalt vor den Richtertisch und präsentierte dem Zeugen R., der, begleitet von seinem Rechtsbeistand, ebenfalls nach vorn gekommen war, vier Annoncen, auf denen eine Hand zu sehen war, die eine Tasse Kaffee reicht. Viermal fragte er den Zeugen, ob das seine Hand sei. Und viermal verweigerte der Zeuge die Antwort.
Es ging um die Geschichte von Huber-Kaffee, einer Kaffeemarke, die es nicht gab, deren Markenrechte der Zeuge R. angemeldet hat und auf seine Weise ausbeutete. Nun ging Herr R. in Kaffees und bestellte Huber Kaffee. Er bekam dann einen normalen Kaffee irgend eines Anbieters serviert und nahm das dann zum Anlass, den Betreiber abzumahnen. Soweit seine Geschäftsidee. Darauf folgte die Abmahnung gegen den Kaffeehausbetreiber, denn außer R. kennt niemand Huber.
Gegen Zahlung eines hohen Geldbetrages bot R. an, das Verfahren nicht weiter zu betreiben. Das führte zur zivilrechtlichen Eskalation. Herr R. behauptete weiterhin, es läge sogar eine Strafanzeige vor. Durch dieser angebliche Strafanzeige fühlte er sich berechtigt, von einem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen und deswegen Fragen der Anwaltschaft nicht mehr zu beantworten. Die Verteidigung Reuss verlangte glaubhafte Belege eines solchen Strafverfahrens. R. konnte weder Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft oder Polizei vorlegen, geschweige denn schriftliche Dokumente, die die Einleitung eines Strafverfahrens glaubhaft machen konnten.
Ungeachtet dessen attestierte das Gericht jedoch ein Zeugnisverweigerungsrecht im Sinne der Strafprozessordnung. R. hat während des Strafverfahrens Reuss immer wieder erklärt, er befände sich nunmehr auf dem moralisch gerechten Weg. Sein Handeln bestärkt die Zweifel an dieser Selbsteinschätzung. Das alles erscheint verwirrend. Aber im Prozess gegen die Reichsbürger wird selbst eine Tasse Kaffee entscheidend hinsichtlich der Glaubwürdigkeit eines wichtigen Zeugen.
In Frankfurt ist R. nicht zum ersten Mal als Zeuge geladen. Man kennt dort sein Gesicht, seine Vita und seinen vollen Namen; nur nennen sollen Journalisten ihn nicht, denn R. fühlt sich verfolgt, bedroht und eingeschüchtert. Nicht einmal seine Vornamen dürfen genannt werden. Als Häftling hatte er sich als Spitzel betätigt, was bei den Ermittlungsbehörden, dem Bundeskriminalamt, dem Verfassungsschutz und so weiter natürlich gut, bei seinen Mitgefangenen aber denkbar schlecht ankam. In der Häftlingshierarchie steht der Denunziant ziemlich weit unten, etwa auf einer Stufe mit dem Päderasten.
Sein Talent, sich anzubiedern, zu plaudern und zu denunzieren, haben R. zum Zeugen der Anklage gemacht. Einer seiner Mitgefangenen gehörte zum Kreis der sogenannten Reichsbürger, hatte zu seinem falschen Freund Vertrauen gefasst und ihm allerlei Vorder- oder Hintergründiges über seine Erlebnisse, Ansichten und Vorhaben erzählt. Was dieser falsche Freund, in welcher Form auch immer, an die Behörden weitergab. So wurde R. zum möglicherweise entscheidenden Belastungszeugen, wie er von einem seiner Anwälte nicht ohne Zeichen des Respekts genannt wird.
Warum er sich auf diese Rolle eingelassen hat, liegt auf der Hand. Zeugen wie er dürfen zwar kaum auf Sympathie, können jedoch mit Aufmerksamkeit, Entgegenkommen, vielleicht sogar mit Belohnung rechnen. R. lässt diese Absicht deutlich genug durchblicken, wenn in seine Aussagen mit der Versicherung beschließt, von nun an auf der richtigen Seite des Rechtsstaats stehen zu wollen. Was ja als Ausdruck tätiger Reue Eindruck machen könnte, käme diese Reue nicht aus dem Munde eines Mannes, der die halbe Welt offenbar planmäßig belogen und betrogen hat. Glaubwürdig, sagt das Sprichwort, ist man entweder immer, oder nie.
Sein Geschäftsleben scheint aus einer einzigen Kette von kleinen und großen Gaunereien bestanden zu haben; das Internet war ihm dabei dienlich. Wenn es eng wurde und er vor Gericht kam, pflegte er von einem Abitur zu erzählen, das er nicht besaß, von einem Studium, das er nie begonnen, und von Abschlüssen, die er nie erworben hatte. Auf den großen Bildschirmen, die dem Publikum das Mitlesen von Dokumenten erlauben, wurden etliche Falschaussagen sichtbar, unterschrieben von M. C. R. Er selbst spricht von den Lebenslügen, die er über lange Zeit aufrechterhalten habe; wann er mit ihnen Schluss gemacht hat, weiß allerdings kein Mensch.
Offenbar gibt es, neben der Banalität des Bösen, auch so etwas wie eine Banalität der Lüge – Menschen also, denen das Lügen nicht viel ausmacht. Die aus Gewohnheit, Übermut oder Geltungssucht lügen. Die den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nicht ernst nehmen, vielleicht auch gar nicht kennen, jedenfalls nicht beachten. Die Emotionslosigkeit, mit der R. die Erklärung verliest, in der er zugibt, über seine Lebensweg immer wieder falsche Angaben gemacht zu haben, die er nun endlich korrigieren oder revidieren wolle, nährt den Verdacht, dass es ihm auf eine Lüge mehr oder weniger nicht groß ankommt.
Dass Zeugen wie er die Öffentlichkeit nicht schätzen, kann man verstehen. Sein Antrag, das Publikum von seiner weiteren Vernehmung auszuschließen, kam deshalb nicht ganz überraschend. Dass er vom Gericht abgelehnt wurde, glücklicherweise auch nicht. Auch ohne sein Pathos wird man Hegel Recht geben, der schrieb, dass die öffentliche Meinung die ewigen Prinzipien der Gerechtigkeit, das Resultat der Gesetzgebung und des allgemeinen Zustandes „in Form des gesunden Menschenverstandes“ enthalte. Und sich dann fragen, was aus einem Rechtsstaat werden soll, der sich auf Zeugen wie M. C. R. stützt.
Die Öffentlichkeit muss wissen, was in diesem Prozess vor sich geht. Wer hier gegen wen steht, wer was aussagt und wie es um die Glaubwürdigkeit von Zeugen steht. Deswegen werden wir weiter berichten, auch dann natürlich, wenn R. gegen Tichys Einblick wie gewohnt mit einer Abmahnung zu Felde zieht und den Autor dieser Zeilen, Strafanzeige gestellt hat – mit welcher Begründung wissen wir noch nicht. Die Wahrheit ist eine dehnbare Angelegenheit bei R. TE wird weitermachen, denn wir glauben, dass es wichtiger ist, die Öffentlichkeit vor fragwürdigen Zeugen als fragwürdige Zeugen vor der Öffentlichkeit zu bewahren.
In eigener Sache: Tichys Einblick und Konrad Adam werden von dem Beschuldigten mit zivil- und strafrechtlichen Verfahren überzogen. Verfahren dieser Art sind aufwendig, langwierig, und dies können wir nur mit Ihrer Hilfe durchstehen. TE ist aber der Meinung, dass die Öffentlichkeit ein Anrecht darauf hat über den wichtigsten Zeugen der Anklage informiert zu werden. Wir danken für Ihre Unterstützung im wohl wichtigsten politischen Prozess seit den RAF-Verfahren wegen Terrorismus.