
Nach dem Chaos bei der Kanzler-Wahl herrscht auch beim wohl wichtigsten Thema, das Bundeskanzler Friedrich Merz angehen wollte, große Unklarheit: der versprochenen Migrationswende. Die Aussagen schwanken vom „Asyl-Stopp“ für alle bis hin zu der Behauptung, dass sich im Grunde nichts geändert habe. Hinzu kommt heftige Kritik aus dem Ausland und der Streit um die Frage, ob der Bundeskanzler eine „nationale Notlage“ ausgerufen hat oder dies tun will.
NIUS gibt die Antworten auf die wichtigsten Fragen zu den neuen Grenzkontrollen:
Es war das klarste, das unmissverständlichste aller Wahl-Versprechen, welches Bundeskanzler Friedrich Merz abgegeben hatte: am ersten Tag, alle ohne Einreisedokumente zurückzuweisen und so für ein „faktisches Einreiseverbot“ zu sorgen.
Davon kann jedoch keine Rede sein, wie NIUS-Reporter von der deutschen Außengrenze berichten, wie Friedrich Merz aber auch unumwunden zugibt: „Wir kontrollieren in etwa so wie etwa wie während der Fußball-Europameisterschaft im letzten Jahr – wir werden auch weiter zurückweisen.“
Die Bundespolizei hat die Grenzkontrollen zwar intensiviert, an deutlich mehr Grenzübergängen Kontrollposten eingerichtet und es soll auch Zurückweisungen von Einreisewilligen ohne Papiere gegeben haben, aber bei Weitem nicht in dem Ausmaß, wie Merz es versprochen hatte.
Die Bundespolizei kann jetzt auch Menschen zurückweisen, die vorgeben, um Asyl zu suchen. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hat die mündliche Weisung an die Bundespolizei aus dem Jahr 2015 schriftlich zurückgenommen.
Das Schreiben von Dobrindt an die Bundespolizei.
In dem Schreiben an den Präsidenten der Bundespolizei, Dieter Romann, heißt es: Die Anwendung der Regelung des §18, Abs. 2 Nr. 1 AsylG führt dazu, dass Schutzsuchenden bei der Einreise aus einem sicheren Mitgliedsstaat die Einreise verweigert werden kann.“
Der Haken an dem Schreiben: Mit der Formulierung „kann“ ist es den Bundespolizisten vor Ort überlassen, wer im Einzelfall zurückgewiesen wird und wer als „vulnerable Gruppe“ definiert wird, die Dobrindt von Zurückweisungen ausschließt. Diese Kann-Formulierung erfährt bereits heftige Kritik, weil ein willkürliches Vorgehen an den Grenzen die Folge sein könnte, sollten an unterschiedlichen Grenzübergängen unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden.
Eine gegenteilige Weisung, wonach Dobrindt die Bundespolizei explizit angewiesen hat, verstärkt Zurückweisungen auch von Asyl-Bewerbern vorzunehmen, ist hingegen nicht bekannt.
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Welt-Journalist Robin Alexander meldete am Donnerstag: „Merz ruft tatsächlich die ,nationale Notlage‘ aus. Die neue Bundesregierung will Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union aktivieren“ – und kassierte dafür ein heftiges Dementi der Bundesregierung. Kanzler Merz sagte dazu (siehe Video oben): „Um es sehr klar und sehr deutlich zu sagen, weil es da einige Irritationen gegeben hat: Es hat niemand in der Bundesregierung – auch ich persönlich nicht – eine Notlage ausgerufen.“
Bemerkenswert: Außenminister Dobrindt gab sowohl in einem Pressestatement als auch im Talk von Maybrit Illner an, dass er die Rechtsgrundlage für Zurückweisungen an den Grenzen das deutsche Asyl-Recht nutze, „in Zusammenhang mit bilateralen Verträgen und auch in Verbindung mit dem Artikel 72“, wie er wörtlich sagte. Besagter Paragraph 72 aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union macht es Nationalstaaten möglich, ihr nationales Recht über EU Recht zu stellen, wenn es um die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ geht.
Genau diese Auslegung des europäischen Rechts hatte Kanzler Merz im August 2024 nach dem islamistischen Attentat von Solingen als „Ausrufen einer nationalen Notlage“ bezeichnet. Es scheint, als würden sich Merz und Dobrindt auf besagte Notlage zu berufen, ohne in dieser Form darüber sprechen zu wollen.
Die leichte Verschärfung der Grenzkontrollen ist am Donnerstagmittag in Kraft getreten – auf NIUS-Nachfrage konnte das Bundesinnenministerium noch keine Zahlen nennen oder einen etwaigen Anstieg der Zurückweisungen beziffern. „Für eine (auch vorläufige) Bilanz ist es noch zu früh. Etwaige erste Bewertungen der Maßnahmen werden wir auf den üblichen Wegen ankündigen bzw. veröffentlichen“, teilte ein Sprecher mit.
Dem Bundesinnenministerium von Alexander Dobrindt liegen noch keine Zahlen vor.
In Zeile 2960 des Koalitionsvertrages von Union und SPD heißt es wörtlich: „Das Grundrecht auf Asyl bleibt unangetastet.“
So steht es im Koalitionsvertrag.
SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil hatte dies während der Koalitionsverhandlungen auch immer wieder betont. Fest steht aber: Im Koalitionsvertrag steht zeitgleich: „Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den 2989 gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen.“ Beides gleichzeitig geht aber faktisch nicht zusammen.
Auch das Wort „dauerhaft“ war Teil von Merz' Wahl-Versprechen. Mit dauerhaften Grenzkontrollen sollten die Grenzen stärker gesichert und die illegale Migration zurückgedrängt werden. Inzwischen ist jedoch nur noch von drei Wochen die Rede – zum einen, um die neue Vorgehensweise auch in Absprache mit dem Koalitionspartner zu testen. Darüber hinaus heißt es auch aus Kreisen der Bundespolizei, dass die Beamten den höheren Arbeitsaufwand an den Grenzen nicht länger als drei Wochen durchhielten.
Auch Kanzleramts-Chef und Merz-Vertrauter Thorsten Frei machte deutlich, dass dauerhafte Grenzkontrollen nicht das Ziel seien: „Aber wir sind uns im Klaren darüber, dass es kein dauerhaftes Ziel sein kann, dass wir wieder Binnengrenzkontrollen in Europa haben. Das widerspricht auch unseren Vorstellungen von Schengen, einem grenzenlosen Europa und vielem anderen mehr.“
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