Wie der 4. September 2015 das Land veränderte

vor 2 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Im Herbst 2015 unterlief Merkel der schlimmste Fehler ihrer an kardinalen Fehlern wirklich nicht armen Regierungszeit. Wie bei allen anderen ihrer Irrtümer beging sie auch diesen nicht in voller Absicht, sondern aus Opportunismus, denn Merkels Regierungsmaxime lautete, nicht gegen den veröffentlichten Zeitgeist zu regieren. Wie seit frühester Kindheit erstrebt, wünschte sie als Primus, als Beste vor der Klasse, vor der Partei, vor der Welt dazustehen. Und der veröffentlichte Zeitgeist war seit dem Sieg der Achtundsechziger, denen der Marsch durch die Institutionen zum Unglück des Landes glückte, und ihrer Kinder links, grün, woke, linksliberal oder postmodern, wie unterschiedliche Bezeichnungen für den eklektizistischen Komplex der intellektuellen und in der Konsequenz selbstzerstörerischen Dekadenz des Westens lauten.

Europas Unglück und Europas Niedergang resultieren aus dem Sieg der Wohlstandskinder, deren Ideologie nur die fashionable Kleidung für ihr Ego bietet, allzumal in Deutschland, wie die große Denkerin Hannah Arendt einst präzise anmerkte, dass die Deutschen es lieben, sich erhabene Gefühle zu bereiten, eben, wie ich meine, immer die Welt zu retten und sich nur allzu gern auf den Thron des Herrschers über die Moral und über das Luftreich der Träume plumpsen zu lassen. Einer der „Helden“ dieser neuen intellektuellen Eliten des „westlichen Europas“, der damals maßlos überbewertete, inzwischen so ziemlich vergessene Schriftsteller Jean Genet fasste den Hass der neuen Eliten auf ihre Mitbürger in den Satz zusammen: „An dieser Stelle meiner Rede rufe ich, um die Schwarzen zu retten, zu einem Verbrechen auf, zur Ermordung der Weißen.“

Für Deutschland ist der Stichtag, an dem der Dekadenz vorerst nicht mehr zu wehren und die postmodernen und postdemokratischen Eliten den Höhepunkt ihrer Herrschaft erreichten, der 4. September 2015. Es ist der Tag, an dem eine zerstörerische Dynamik entfaltet wurde, der Tag, an dem sich Deutschland von der Wirklichkeit verabschiedete.

In der kritischen Merkel Biographie fasste ich das Regierungshandeln der Bundeskanzlerin in dem Bild von den vier Sargnägeln für Deutschland zusammen. Der Tag, an dem sie einen der vier Sargnägel einschlug, jährt sich nun zum 10. Mal. Ihre Entscheidung, zu der sie wie so oft sich getrieben fühlte, sollte das Land radikal verändern.

Was Merkel dem Land gebracht hat, lässt sich in Worte fassen, die da lauten: wirtschaftlicher Niedergang, Verschuldung, internationale Bedeutungslosigkeit, innerer Zerfall, Zerfall der Infrastruktur und Spaltung, Hass, Terror, eine Inflation von Messerstechereien und Vergewaltigungen, auch Massenvergewaltigungen. Dabei kann man ihr beim besten Willen keine Originalität unterstellen, sondern sie war nur diejenige, die am besten nach den Bedingungen der Postdemokratie zu handeln vermochte. Schnell, effektiv, geräuschlos und schlau passte sie sich den neuen Eliten an – lernte virtuos, deren Spielregeln zu beherrschen. Man muss dazu wissen, dass die Grundlage von Merkels Herrschaft im Bündnis mit den Medien bestand, nicht mit der Partei, die sie dann auch zum willigen Werkzeug, zur Gefolgschaft der Mediokeren umformte. Mithilfe der Medien gelangte sie an die Macht, durch die Macht sah sie sich in der Lage, verteilen zu können, und zwar Ämter, Posten und Pöstchen und schuf sich so eine Gefolgschaft in der Partei. Die Wichtigen wurde unwichtig und die Unwichtigen wurden wichtig. In dekadenten Gesellschaften besteht die Existenzbedingung der Elite in ihrer Dysfunktionalität.

Angela Merkel regierte Deutschland unter dem Jubel der allzu vielen in den Niedergang, weil sie in der Verachtung der Deutschen sich eins wusste mit den sogenannt „liberalen“ oder postmodernen oder eben grünen Eliten. Sie richten sich in der Idiosynkrasie vom Postnationalen ein. Sie waren soviel „post“, postdemokratisch, postnational, postmodern, dass sie auch bald „post“ sein werden. Nur allzu willig folgte die Union Angela Merkel auf diesem Weg in die grüne Abgehobenheit, denn ihrer Funktionäre wollten so gern auch einmal hipp, so gern Großstadtpartei sein.

Den Witz, den die Geschichte am meisten liebt, ist der Treppenwitz. Und der Treppenwitz von Deutschlands hochgeheiligter Willkommenskultur lautet, dass Merkel eigentlich nichts fremder war, als „Mama Merkel“ zu werden. Migration interessierte sie nicht im Geringsten. Im Jahr 2014, vor allem aber 2015 schlugen die Diskussion um Griechenlands Schulden und einem möglichen Grexit hoch. Doch mitten in der Diskussion um neue Hilfen für Griechenland, orakelte Merkel 2015 im ZDF-Sommerinterview über die Problematik der Migration: „Diese Fragen werden uns sehr viel mehr noch beschäftigen als die Frage Griechenlands und die Stabilität des Euros.“ Kaum jemand verstand damals die Brisanz dieser Nebensätze, denn niemand kannte die Berichte der Geheimdienste und die DVD vom Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, die ebenjene Migrantentrupps zeigten, die nach Europa aufgebrochen waren. Man konnte in ihnen das Heer der Armen des „globalen Südens“ oder eine Invasion sehen, je nachdem.

Wie in einem schlechten Traum versuchte Merkel im Frühjahr und Sommer das Problem zu verdrängen, indem sie sich mit dem Versuch ablenkte, die Migranten auf Europa zu verteilen, was niemand wollte, anstatt Maßnahmen zu entwickeln, Migranten wirkungsvoll abzuweisen, die Länder, die für die Außengrenzen zuständig waren, wirksam zu unterstützen und Frontex konsequent zu stärken. Doch im Laufe des Jahres strömten immer mehr Migranten aus dem muslimischen und afrikanischen Raum nach Europa, insbesondere nach Deutschland, denn in Deutschland, so sprach es sich im sogenannten „globalen Süden“ herum – und wurde auch von interessierter Seite herumgesprochen -, bekommt man soviel Geld geschenkt, dass man davon die ganze Familie daheim finanzieren konnte. Für einige afrikanische Länder bilden die Überweisungen aus Deutschland bereits einen eigenen Wirtschaftsfaktor, deshalb entwickeln diese Länder verständlicherweise wenig Neigung, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. Im Jahr 2016 überwiesen Migranten umgerechnet 17,7 Milliarden Euro aus Deutschland in ihre Herkunftsländer. Von Anfang an vermengte Angela Merkel, und die ihr gewogenen Medien sollten ihr darin folgen, demagogisch zwei Rechtsinstitute, nämlich das Asylrecht des Grundgesetzes und die Genfer Flüchtlingskonvention. Wenn Merkel damals gegen die bald schon geforderte Obergrenze argumentierte, dass das Asylrecht keine Obergrenze kenne, stimmte das zweifelsohne, doch nach dem Asylrecht durften die meisten „Asylbewerber“ gar nicht in Deutschland sein, denn das gilt nur für politisch Verfolgte, nicht aber für Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge. Für den Umgang mit Kriegsflüchtlingen beispielsweise gilt die Genfer Flüchtlingskonvention, die allerdings Kontingentierungen, mithin Obergrenzen kennt.

In Folge des Jahres 2015 wurden ein rechtliches Gestrüpp geschaffen, das die Möglichkeit bot, alle Maßnahmen gegen die Massenmigration in die Sozialsysteme als mit dem Recht nicht vereinbar hinzustellen. Man begann, das Recht dadurch aufzulösen, indem man still und heimlich ein Parallelrecht schuf, wozu das sogenannte, demokratisch nicht legitimierte Europa-Recht ohnehin neigt. Doch wenn die Auslegung des Rechts, seine Interpretation politischen bzw. ideologischen Vorgaben folgt, wenn sich das Recht von der Gerechtigkeit und von seinem Sinn ablöst, wenn es politische Vorstellungen und Konzepte durchsetzen, wenn die Judikative die Legislative unterlaufen und aushebeln soll, um so auf judikativem Weg einen Umbau der Gesellschaft gegen den in Wahlen erklärten Willen der Bürger vorzuarbeiten, dann wird aus dem Rechtsstaat der Repressionsstaat. Merkel als postdemokratische Politikerin oder als Politikerin, die das Instrumentarium der Postdemokratie glänzend beherrschte, nutzte die Veruneindeutigung des Rechts. In ihrem Sommerinterviews sprach Merkel 2015 munter davon, dass das Dublin-Abkommen, das besagte, dass „Flüchtlinge“ sich in dem EU-Staat registrieren lassen mussten, wo sie zum ersten Mal EU-Territorium betraten, nicht mehr funktioniert. Da Deutschland von sicheren Drittländern umgeben war, bestand für Deutschland eigentlich auch kein Problem, wenn die Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht durch ihr fahrlässiges Handeln dieses Migrationsproblem zu dem deutschen Problem gemacht hätte. So monströs die Fehlleistung war, um so mehr musste sie nun durch eine der größten Vertuschungsaktionen, die die Geschichte kennt, unter der Phrase der Willkommenskultur medial in eine heroische Tat uminterpretiert werden. Interessanterweise wurde die Willkommenskultur als Umgestaltungsideologie in der medialen Volkserziehung durch die Klimaideologie und zwischenzeitlich durch die Pandemie-Ideologie abgelöst, die alle drei totalitär sind.

Am 31. August und am 1. September 2015 ließ Viktor Orbán noch Sonderzüge mit Migranten nach Wien und München, die in Ungarn auf dem Weg nach Deutschland gestrandet waren, fahren. In München trafen am 31. August 900 „Flüchtlinge“ ein, am 1. September kamen schon mehr als 2400 „Flüchtlinge“ an. Sie hielten Schilder mit Germany und Bilder von Angela Merkel hoch. Auf einer Pressekonferenz sprach Merkel, ohne es vielleicht wirklich durchdacht zu haben, quasi eine Einladung an die „Flüchtlinge“ aus: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“ Im Wege standen die Kritiker, die Realisten, sie wurden medial „aus dem Weg geräumt“.

Auf dem Keleti-Bahnhof stürmten derweil „Flüchtlinge“ Züge, die nach Deutschland fuhren. Vor dem Gewaltpotential eines Teils dieser Leute wurden nicht nur die Augen geschlossen, sondern jeder, der Asyl sagte, wurden quasi zum Übermenschen stilisiert, zum guten „Flüchtling“, zum Inbegriff des Mensch-seins. Für Ungarn entstand eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Sicherheit. In dieser Situation bat Ungarn Deutschland um Hilfe. Die deutsche Seite zog die Entsendung von Sonderzügen nach Budapest in Erwägung, verlangte aber, dass die „Flüchtlinge“ am Bahnhof Keleti sich registrieren ließen, was diese aber verweigerten, weil sie darin eine Falle witterten. So entstand eine Pattsituation, während immer mehr „Flüchtlinge“ zum Keleti-Bahnhof strömten. Es war die deutsche Seite, die für Verwirrung sorgte. Auf der einen Seite wurde jeder ankommende Migrant in München bejubelt wie ein Wunder Gottes. Auf der anderen Seite protestierte die deutsche und die österreichische Regierung in Budapest dagegen, dass Orbán Sonderzüge mit „Flüchtlingen“ schickte, auf der einen Seite galt Dublin, auf der anderen eigentlich nicht mehr so recht. Was wollte Merkel und was wollte Merkel nicht? Sie wusste es selber nicht und stolperte dadurch in eine Krise, die sich bis heute in Deutschland täglich vergrößert.

Die Deutsche Welle beschrieb am 3. September die Situation so: „Am Ostbahnhof in Budapest spielen sich chaotische Szenen ab: Mehr als 1000 Menschen strömten in das Gebäude, nachdem sie tagelang auf dem Vorplatz auf eine Weiterreise nach Westeuropa gewartet hatten. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie sich Flüchtlinge auf den Bahnsteigen und vor den Zügen drängten. Viele hatten Fahrkarten in der Hand. Einige stürmten einen Zug. Sie versuchten, ihre Kinder durch die Fester und Türen in die Wagen zu drängen. […] Die ungarische Eisenbahngesellschaft MAV hatte am Vormittag erklärt, es gebe keine direkten Züge von Budapest nach Westeuropa.“ Die Ungarn sahen sich gezwungen, den Zugverkehr ins Ausland einzustellen. Merkel schien weiter abgetaucht zu sein.

Am 4. September, einem Freitag, begab sich die Bundeskanzlerin nach der Morgenlage im Kanzleramt auf eine Dienstreise unwichtigen Inhalts, die sie nach Bayern und nach Köln führen sollte. Freitagsstimmung dürfte geherrscht haben, Kanzleramtsminister Altmaier in Gedanken schon bei einem hübschen Termin in Genf, wohin er aufbrechen sollte, alle anderen bereits in Wochenendstimmung. Nichts Besonderes schien anzuliegen, außer die von Stunde zu Stunde katastrophaler werdende Situation am Keleti-Bahnhof in Budapest, doch die interessierte Merkel und ihre Leute offensichtlich nicht. Hätte nicht spätestens jetzt die Bundeskanzlerin alle Termine absagen und sich mit dem österreichischen Kanzler Faymann und dem ungarischen Ministerpräsidenten Orbán um eine Lösung bemühen müssen, wenn ihr die Menschlichkeit so sehr am Herzen lag?

Und während sich Merkel auf die Reise nach Bayern begab, beschlossen Tausende von Migranten, die am Keleti-Bahnhof festsaßen, sich ebenfalls auf die Reise zu begeben, und zwar nach Deutschland. Spätestens seit dem 31. August hätte jedem verantwortlichen Politiker in Österreich und vor allem in Deutschland bewusst sein müssen, dass die Lage eskalieren würde und man eine schnelle provisorische und anschließend eine grundsätzliche Lösung finden musste. Nicht so Merkel.

So sehr man über ihre Motive für ihr verantwortungsloses Handeln rätselt, kommt man genau auf diesen Punkt: Sie wollte keine Verantwortung für eine Entwicklung übernehmen, die sie nicht abschätzen konnte. Der Mythos der Willkommenspolitikerin Merkel wurde nur mit großer medialer Kraft erzeugt, um ihre Fehler und ihre Flucht vor der Verantwortung in diesen Tagen vergessen zu machen, zu bemänteln. Der ungarische Botschafter József Czukor versuchte an diesem 4. September, an dem sich Merkel zu Wohlfühlterminen nach Bayern und nach Köln begab und die „Flüchtlinge“ vom Bahnhof Budapest-Keleti sich auf den Weg nach Deutschland machten, die zuständige Staatssekretärin im Bundesinnenministerium Emily Haber zu erreichen, doch die ging nicht ans Telefon. Deshalb schrieb er ihr einen dringlichen Brief. Er teilte der Staatssekretärin mit, dass etwa 3000 „sich als syrische Staatsangehörige bezeichnende Menschen zu Fuß“ auf der Autobahn Budapest–Wien und auf den Geleisen unterwegs sind. „Nach gegenwärtigem Kenntnisstand will die entscheidende Mehrheit der Personen, die sich als syrische Staatsangehörige bezeichnen, nach Deutschland weiterfahren. Sie verweigern jegliche Kooperation mit den ungarischen Behörden, indem sie sich darauf berufen, dass sie in Deutschland aufgenommen würden. Ebenso verweigern sie sich einer Beförderung in ein ungarisches Flüchtlingslager durch die ungarischen Behörden.“ Angesichts dieser Situation schreibt der ungarische Botschafter an die deutsche Staatssekretärin: „Es werden die österreichischen und deutschen Behörden wiederholt gebeten, mit den ungarischen Behörden zusammenzuarbeiten und sich um eine gemeinsame Lösung der gegenwärtigen Situation zu bemühen, die allerdings unaufschiebbare Maßnahmen erfordern.“

Deutsche Medien haben versucht, Merkels Versagen in eine Hinterlist von Viktor Orbán umzudichten, der angeblich Merkel eine Falle gestellt hatte. Aber was ist das für eine Falle? Jeder sah doch den Druck, der sich auf die EU-Außengrenzen geradezu stündlich erhöhte, jeder sah doch die Situation am Keleti-Bahnhof, jeder, auch Angela Merkel und ihre Regierung. „Wiederholt“ haben die Ungarn Österreich und Deutschland um Zusammenarbeit gebeten, wiederholt! Doch Angela Merkel verschloss in ihrer Ratlosigkeit die Augen vor der sich abzeichnenden Katastrophe.

Nachdem sich die Migranten vom Keleti-Bahnhof zu Tausenden, von 4000 bis 6000 war schließlich die Rede, auf den Weg über Straßen und Gleise gemacht hatten, versuchte Viktor Orbán, Angela Merkel telefonisch zu erreichen. Es ging ihm nicht darum, Hilfe von Merkel zu erbitten, sondern sich mit ihr abzustimmen, wie man in dieser eskalierenden Situation weiterverfahren sollte. Doch Merkel mied das Telefon. Sie wollte für das, was sich zusammenbraute, keine Verantwortung übernehmen, denn es ist doch komfortabler, vom hohen moralischen Ross dem Ungarn die Schuld für alles zuzuschieben, was jetzt geschehen wird. Nach Terminen in Bayern, flog sie nach Köln. Unterwegs erfuhr sie von den Flüchtlingskolonnen, die sich vom Keleti-Bahnhof in Richtung ungarische Grenze aufgemacht hatten. Doch Merkel war immer noch nicht bereit, mit Orbán zu telefonieren, stattdessen sonnte sie sich in Köln in wohlfeiler Moralität, als sie in ihrer Rede zum 70. Jahrestag der NRW-CDU verkündete: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wer vor Not, vor politischer Verfolgung flieht, da haben wir die Verpflichtung, auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonventionen, unseres Asylrechts und des Artikel 1 unseres Grundgesetzes Hilfe zu leisten – ob es uns passt oder nicht.“

Es passte ihr aber nicht, mit Viktor Orbán zu telefonieren. Auch der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann drückte sich vor der Verantwortung wie Merkel und nahm ebenfalls Orbáns Anruf nicht an. Stattdessen versuchte Faymann, Merkel telefonisch zu erreichen, doch vergeblich Inzwischen hatte Orbán, weil Faymann für ihn nicht zu sprechen war, eine Verbalnote ans österreichische Außenministerium gesandt, die offiziell die österreichische Regierung darüber informierte, dass sich „Flüchtlinge“ auf dem Weg nach Österreich befänden, und fragte nach, wie Ungarn sich verhalten solle. Weil Faymann jetzt reagieren musste, aber weiterhin keine Verantwortung übernehmen wollte, antwortete der Sozialdemokrat, dass er mit Orbán telefonieren werde, aber erst am nächsten Tag gegen 9 Uhr.

Doch die „Flüchtlinge“ legten derweil Kilometer für Kilometer Richtung Österreich zurück, und die Nacht drohte. Der Ungar publizierte Faymanns Antwort, der nun nicht Orbán, sondern Merkel anrief. Jetzt endlich ging Merkel ans Telefon, aber auch nur, weil Faymann drängelte. Er schlug ihr vor, dass Deutschland und Österreich jeweils die Hälfte der Flüchtlinge übernehmen. Merkel stimmte noch nicht zu, sondern hielt Rücksprache mit Steinmeier und Gabriel, Seehofer erreichte sie nicht mehr. Würde man die Flüchtlinge aufnehmen, würde man die Dublin-Regel brechen. Doch als absolute Ausnahme in dieser Notsituation wäre das nach der Selbsteintrittsklausel möglich. Der Chef der ungarischen Staatskanzlei entschied gegen 21.15 Uhr, Busse zu schicken, um die „Flüchtlinge“ zur Grenze zu bringen, weil deren nächtlicher Marsch auf der Autobahn zu gefährlich sei. Gegen 22.30 Uhr informierte Merkel Faymann, dass sie zustimmt. Jetzt endlich meldete sich der österreichische Bundeskanzler bei Viktor Orbán und teilte ihm mit, dass er Busse zur Grenze schicken würde, um die „Flüchtlinge“ abzuholen.

Trotzdem stellte nicht dieser einmalige Akt, der Grenzöffnung genannt wurde, Merkels großes Desaster dar. Es erfolgte eine gute Woche später. Um den Flüchtlingsstrom zu stoppen, hatte die Bundesregierung beschlossen, Einheiten der Bundespolizei an die Grenze nach Bayern zu verlegen, um Grenzkontrollen durchzuführen und alle zurückzuweisen, die nicht einreiseberichtigt sind, selbst wenn sie ein Asylgesuch stellen wollten. Mit der Schließung der Grenze hätten Österreich und andere Staaten nachgezogen. Der Dominoeffekt, der eingetreten wäre, hätte den Migrantenstrom gestoppt, die Außengrenzen entlastet und Zeit geschenkt, den Schutz der Außengrenze zu verbessern und Frontex auszubauen. Die Einheiten der Bundespolizei befanden sich schon in ihren Bereitstellungsräumen, die Befehle waren geschrieben. Doch bei der abschließenden Beratung im Bundesinnenministerium brachten die Beamten, die für Zuwanderung zuständig waren, Zweifel vor. Anstatt dass Thomas de Maizière die Debatte beendete, verständigte er sich mit Merkel. Schließlich fragte er, ob man die Bilder aushalten würde, wenn Migranten mit Waffengewalt zurückgewiesen werden müssten, weil sie sich nicht anders aufhalten ließen. Die Möglichkeit unschöner Bilder brachte Merkels Entscheidung ins Wanken. In dem Moment, wo Merkel staatsmännische Größe zeigen musste, versagte sie vollkommen. Noch am selben Tag wurden die Befehle umgeschrieben. Es hatte etwas von Karneval. Die Bundespolizei kontrollierte, aber nur um den Asylwunsch aufzunehmen, abgewiesen durfte niemand werden, auch wenn er sich nicht ausweisen konnte. Das deutsche Sozialsystem stand von nun an der ganzen Welt offen. Merkel sonnte sich als Flüchtlingskanzlerin, als Willkommenskanzlerin im Jubel der postmodernen Medien. Nur sehr, sehr wenige, wie Tichys Einblick oder die „Achse des Guten“ wagten damals laut vernehmbaren Widerspruch.

Im Herbst 2015 schrieb ich das Buch: „Gehört Luther zu Deutschland“, das eigentlich heißen sollte: „Gehört Luther noch zu Deutschland“. Doch der Herder Verlag wagte zumindest mit meinem Buch den Widerspruch zu einer Zeit als viele, fast alle von Bild über die Welt bis zur FAZ Merkel zujubelten. Patrick Bahners von der FAZ, der sich immer irgendwie erfolglos in seinen Artikeln zu erklären versucht, was er da eigentlich schreibt, rief am 17. September 2016 in echter Begeisterung und mit knarrendem wilhelminischem Tone aus: „Ist Merkel-Kritik jetzt Volkssport. Die ganze Meckerei wirkt hilflos, lächerlich und misogyn. Denn auf die Kanzlerin kommt es an“. Was wiederum an die letzten Szenen eines Romans von Heinrich Mann erinnerte.

Da Angela Merkel niemals einen Fehler beging, musste nun dieser, ihr Kardinalfehler, begraben werden, unter einer triumphalen Ideologie der Menschlichkeit. Aus der kinderlosen Bundeskanzlerin wurde plötzlich Mama Merkel. Wer auch nur die geringste Kritik wagte, verlor seine Stellung, mindestens jedoch seine Reputation. Mit der Willkommenskultur ging die Schleifung des konservativen Flügels in der CDU einher. Konnte Angela Merkel schon nicht mit den Grünen gemeinsam regieren, so machte sie, so gut es ging, aus der CDU eine grüne Partei, in Fragen der Klimapolitik, der Energiepolitik, der Migrationspolitik, der EU-Politik, schließlich der Pandemie-Politik.

In der Silvesternacht von 2015/2016 belästigten und nötigten in Köln auf der Domplatte Migranten aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum Frauen und Mädchen sexuell. Die Polizei musste später sowohl über Sexual- als auch Eigentums und Körperverletzungsdelikte sprechen. In der Folge wurden 1200 Strafanzeigen erstattet. Zeitweilig hatten die Bundespolizei und die Polizei die Kontrolle verloren. Das verwundert nicht, denn die von Merkel ermöglichte Turbomigration in die deutschen Sozialsysteme führte zu einem Kontrollverlust des Staates. Obwohl man vom nahen WDR aus die Vorgänge hätte beobachten können, versuchten die Medien diese massenhaften Übergriffe, diesen Kontrollverlust, totzuschweigen, weil von Merkels Gästen, vom edlen Flüchtling keine Gefahr und keine Gewalt ausgehen konnte. Als schließlich über die sozialen Medien nach und nach die ganze Ungeheuerlichkeit öffentlich wurde, begann endlich – verharmlosend und framend natürlich – die überregionale Berichterstattung am 4. Januar. Der Kolumnist der liberalen New York Times zeigte sich erschüttert über die Realitätsblindheit der Merkel-Regierung: „Doch die deutsche Regierung scheint sich nach wie vor mehr darum zu kümmern, unruhige Einheimische zu kontrollieren – zuletzt durch eine Vereinbarung mit Facebook und Google zur Einschränkung fremdenfeindlicher Posts –, als um die Kontrolle der Migration. Erst letzte Woche lehnte Merkel einen Vorschlag ab, die Aufnahme von Flüchtlingen (das letzte Jahr über eine Million betrug) im Jahr 2016 auf 200.000 zu begrenzen.“

Als am 19. Dezember 2016 der islamistische Terrorist Anis Amri auf einem Weihnachtsmarkt 13 Menschen tötete, 54 teils schwer verletzte, trieb Angela Merkel nicht Mitleid mit den Opfern, sondern nur die Sorge um den Bestand ihres Täuschungsmanövers „Willkommenskultur“ um. Weil der Täter ein „Flüchtling“ war, denn: „Dies wäre besonders widerwärtig gegenüber den vielen, vielen Deutschen, die tagtäglich in der Flüchtlingshilfe engagiert sind.“

Die Angehörigen der Opfer, die mühsam um Entschädigung kämpfen mussten, wurden von ihr erst ein Jahr später nach einem offenen Brief im Kanzleramt empfangen. Doch inzwischen wurde Merkel zur Gefangenen ihres eigenen Mythos, denn endlich existierten für sie keine Deutschen mehr, sondern nur noch „diejenigen, die schon länger hier leben“ und die sich vor „denjenigen, die kürzlich hinzugekommen sind“ zu verneigen hatten.

Merkels Staatsministerin für Desintegration derer, die schon länger hier leben, Aydan Özoguz, drückte den Heimatraub in ihrem Strategiepapier vom 21.09.2015 klar und deutlich aus: „Auch mit Blick auf die hohen Flüchtlingszahlen ist klar: Wir stehen vor einem fundamentalen Wandel…Unser Zusammenleben muss täglich neu ausgehandelt werden… Eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, heißt, dass sich nicht nur die Menschen, die zu uns kommen, integrieren müssen. Alle müssen sich darauf einlassen und die Veränderungen annehmen. Schon heute hat jeder fünfte Bürger einen Migrationshintergrund: Deutschland ist längst nicht mehr der ethnisch homogene Nationalstaat, für den ihn viele immer noch halten. Es wird Zeit, dass sich unser Selbstbild den Realitäten anpasst.“

Göring-Eckardt jubelte über die Folgen von Merkels Politik: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich drauf!“ Die Migrationsideologin Naika Foroutan urteilt über die Deutschen, über diejenigen im Sinne Merkels, die schon länger hier leben: „Sie haben das Gefühl, ihr ‚eigenes‘ Land nicht mehr wiederzuerkennen. Zu Recht, möchte man sagen – denn es sieht anders aus, es ist jünger geworden, es spricht anders, es isst anders, es betet anders, es liebt anders, es hat neue Konflikte, es kleidet sich anders, es ist lauter als in den Jahren, die für viele bis heute ihr Deutschlandbild prägen.“ Also, weg mit ihnen! Sie stehen dem neuen Deutschland im Wege: „Deutschland ist das Land seiner Einwohner und Einwohnerinnen. Es gehört niemandem per se, weil er oder sie Urahnen hatten, die schon immer hier gelebt haben.“ Wer sich dieses Land nimmt, dem gehört es dann auch. Foroutan liest sich so, als habe sie Renaud Camus’ Befürchtungen zu Siegesmeldungen verarbeitet.

Deutschland zahlt immer stärker den Preis für Merkels Politik, zuletzt in Solingen, Bad Oeynhausen, Frankfurt/Main, in Magdeburg, in Aschaffenburg, in Friedland und und und und und. Doch für die Merkel-Sympathisantin Katrin Göring-Eckardt, die zwar niemals direkt gewählt wurde, aber seit Jahrzehnten im Bundestag sitzt, hat Migration mit dem Alltag der Menschen wenig zu tun.

Merkels Willkommenskultur entfesselte einen Kulturkampf, der immer stärker zum Kampf um unsere Kultur wird. Es ist auch der Kampf einer dysfunktionalen Elite um ihre Macht.

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