
Ein vor kurzem publizierte Studie eines Meinungsforschungsinstituts (Rheingold-Institut), kam zu dem Ergebnis, das auch von ähnlichen Studien bestätigt wird, dass namentlich viele jüngere Menschen unter 30 zunehmend zögern, öffentlich ihre wahre Meinung zu äußern. Zu groß ist offenbar die Angst davor, sozial geächtet und denunziert zu werden. Selbst leichte Abweichungen von den Aussagen, die der progressive Mainstream als zulässig lizenziert hat, können einen zum Ziel wütender Attacken werden lassen, weil man vermeintlich ein böser „Rechter“ ist.
Dazu kommt der Umstand, dass auch der Staat zunehmend dazu übergeht, Meinungsfreiheit zu beschränken. Zahlreiche Meldestellen für inkorrekte Meinungsäußerungen gibt es schon, dazu eine Justiz, die auch für ersichtlich satirische Äußerungen über Politiker im Einzelfall – besonders gern wohl in Bamberg – empfindliche Freiheitstrafen verhängt, oder zumindest eine Hausdurchsuchung zur Einschüchterung des Betroffenen anordnet. Demnächst wird es dann, wenn man auf den Koalitionsvertrag blickt, wohl auch noch eine Wahrheitsbehörde geben, die vermeintliche Falschaussagen, die der Obrigkeit nicht genehm sind, unterbindet, und auch eine weitere Kriminalisierung dessen, was der Gesetzgeber großzügig als „Hass“ und „Hetze“ deklariert, zeichnet sich ab.
Immerhin 84 % der jüngst Befragten haben den Eindruck, dass Menschen mit unterschiedlichen Meinungen heute einander eher ausweichen, statt offen miteinander zu diskutieren, so die Ergebnisse des Rheingold-Instituts. Für eine demokratische, dem Anspruch nach freiheitliche Gesellschaft ist das bedrohlich, denn Demokratie lebt vom Pluralismus der Meinungen und vom freien Austausch zwischen den Vertretern unterschiedlicher politischer Lager. Eine Homogenität der öffentlich artikulierten Standpunkte ist das Kennzeichnen autoritärer Regime.
Man fragt sich, was diese bedenkliche Entwicklung verursacht hat. Hier mag es unterschiedliche Faktoren geben, und ohne Zweifel spielen auch die digitalen Medien hier eine Rolle, die es erleichtern, Andersdenkende öffentlich bloßzustellen und eine Hetzjagd auf sie zu veranstalten – aus den unterschiedlichsten Gründen –, und die überdies die Bildung von „Blasen“ fördern, in denen sich nur noch Personen austauschen, die demselben politischen Lager angehören. Aber fatal hat sich in den vergangenen Jahren auch die Tendenz der sogenannten „progressiven“ Kräfte ausgewirkt, politische Gegner zu diffamieren, sozial zu ächten und zu „canceln“, ihnen also einen Auftritt in der Öffentlichkeit unmöglich zu machen, oder doch so zu erschweren, dass viele freiwillig darauf verzichten, zu sagen, was sie denken. Man nehme, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, den Fall von Marie-Luise Vollbrecht in Berlin, die gewagt hatte, die Meinung zu äußern, dass der Mensch biologisch gesehen, ein zweigeschlechtliches Wesen sei, und die zum Ziel einer systematischen Diffamierungskampagne wurde. Das ist nur ein Einzelfall, aber kein untypischer.
Solche Attacken auf Andersdenkende hängen oft mit dem zusammen, was man sehr pauschal als Identitätspolitik bezeichnen kann. Was ist damit gemeint? Vereinfacht gesagt, die Annahme, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen von den bestehenden Regeln und Strukturen so benachteiligt werden, dass zum Ausgleich für dieses Unrecht ihre Interessen und Anliegen immer prioritär berücksichtigt werden müssen, ja mehr noch, dass das, was Menschen, die zu diesen Gruppen gehören, auf Grund ihrer „gelebten Erfahrung“ subjektiv als Wahrheit empfinden oder auch nur als solche propagieren, auch als Wahrheit anerkannt werden muss, egal welche rationalen Argumente die Gegenseite vorbringt. Überdies werden die Ansprüche von Kollektiven auf soziale Achtung und Geltung in den Vordergrund gestellt; das Individuum kann sich eigentlich nur als Mitglied solcher Gruppen politisch und sozial in legitimer Weise artikulieren. Wer sich dem entzieht und seiner Rolle nicht gerecht wird – etwa, weil er sich trotz dunkler Hautfarbe migrationskritisch äußert – wird dann rasch zum Verräter, zum Überläufer, der die Feinde unterstützt. Beispiele für solche Identitätsgruppen, denen Menschen zugeordnet werden, wären aus progressiver Sicht etwa „queere“ Menschen oder Immigranten, die aus Ländern des sogenannten „Globalen Südens“ kommen.
Offenbar empfinden viele Akademiker es als Mangel, die von ihnen befürwortete Identitätspolitik nicht noch systematischer begründen zu können
In den USA gibt es eine umfangreiche Literatur zu dieser Art von Identitätspolitik, die etwa die Idee einer „Critical Race Theory“ etabliert hat, für die jeder Weiße grundsätzlich überprivilegiert und bis zum Beweis des Gegenteils durch öffentliche Bußübungen auch ein heimlicher Rassist ist. Die deutsche progressive Szene hat bis jetzt noch nicht eine gleich hohe Zahl von Rechtfertigungsschriften für Identitätspolitik hervorgebracht. Dies ist ein Mangel, dem jetzt ein junger Wissenschaftler, der mehrere Jahre an der Universität Freiburg tätig war, abhelfen will. Karsten Schubert, ein Politikwissenschaftler, der sich schon in der Vergangenheit durch eine Verteidigung dessen, was gemeinhin als „cancel culture“ bezeichnet wird (aus Schuberts Sicht natürlich nur eine Parole böser Rechter), in der progressiven Szene einen Namen gemacht hatte, hat sich dankenswerterweise dieser Aufgabe angenommen. Er hat jetzt selbstbewusst und kampfesfreudig ein „Lob der Identitätspolitik“ publiziert.
Schubert geht dabei nicht ungeschickt vor. Er präsentiert sich als Radikaldemokrat, der die gegenwärtige Demokratie als unvollendet betrachtet, weil sie zahlreiche Gruppen benachteilige (S. 37-38). Eine solche Position ist nicht per se illegitim. Allerdings, wer die bestehende Verfassungsordnung nur als eine Fassade für die Verteidigung eigentlich undemokratischer Herrschaftsverhältnisse darstellt und sich dabei auf eine „postmarxistische kritische Theorie“, die von Foucault und Nietzsche inspiriert ist, beruft (S. 41), für den ist es nicht ganz fernliegend, die Rechte, die diese Ordnung politischen Gegnern zubilligt, als irrelevant zu betrachten, weil ja die falschen Leute in den Genuss solcher Rechte kommen. Warum sollte man diese Rechte also achten? Sollte nicht, der, der auf der falschen Seite steht, besser rechtlos sein? So dachten ja schon die marxistischen Kritiker der parlamentarischen Demokratie zu Zeiten, als man noch bewundernd auf die UDSSR als wahre „Volksdemokratie“ blickte, die so viel getan hatte, um dieses Ideal von Gleichheit zu verwirklichen.
Schubert ist klug genug, solche Schlussfolgerungen nie wirklich auszubuchstabieren, aber dass es ihm in seinem Plädoyer für eine neue radikale Demokratie, die benachteiligte Gruppen in den Vordergrund stellt, nicht nur um den honorigen Kampf gegen offenkundigen Rassismus oder z. B. gegen Homophobie geht, das ist offenkundig, und wird deutlich an den Beispielen, die er bringt.
So findet er es ganz normal und wohl sogar löblich, dass es gegen die Bücher der Harry Potter-Autorin J. K. Rowling einen Boykottaufruf gab, weil sie die Forderungen der Transgender-Lobby kritisiert hatte und darauf bestand, dass die Identität als Frau wesentlich durch biologische Faktoren bestimmt wird. Sicher, ein Boykottaufruf ist keine staatliche Maßnahme zur Einschränkung der Meinungsfreiheit, das stimmt, und eine so erfolgreiche Autorin wie Rowling kann man damit auch nicht ohne Weiteres einschüchtern, aber natürlich vergiften solche Aktionen das politische Klima nachhaltig, und genau das ist ja auch gewollt. Ein freier Meinungsaustausch zwischen streitenden Lagern ist in einem solchen Kontext kaum noch möglich. Überdies kann man weniger etablierte Schriftstellerinnen als Frau Rowlands durch so etwas durchaus zum Schweigen bringen, zumal es heute genug wichtige Verlage gibt, die auf diesen Zug aufspringen, und Bücher „kontroverser“ Autoren grundsätzlich nicht mehr drucken.
Auch findet es Schubert offenbar durchaus angemessen, dass eine Berliner Hochschule vor Jahren das Gomringer-Gedicht „avenidas y flores y mujeres“ von seiner Fassade entfernte, weil es „sexistisch“ sei. Wenn dieses eigentlich extrem spröde und lakonische Gedicht sexistisch ist, dann ist jeder Text, der auch nur von ferne und noch so subtil die erotische Ausstrahlung von Frauen thematisiert, sexistisch und müsste dann auch aus dem öffentlichen Raum verbannt, wenn nicht sogar ganz zensiert werden. Und das würde dann für faktisch alle Liebesgedichte gelten, die jemals in Europa geschrieben wurden. An solchen Stellen (S. 85) wird klar, wie radikal Schubert denkt, auch wenn er sonst bemüht ist, gerade das nicht allzu sichtbar werden zu lassen. Klar ist für ihn, dass die vermeintliche Freiheit des Kulturbetriebes in seiner traditionellen Form nur ein Ausdruck von Machtstrukturen und Unterdrückung ist und den falschen Leuten, also z. B. seinen politischen Gegnern viel zu viel Raum lässt, und das man das dringend ändern muss.
Was den an sich bei uns schon stark linkslastigen ÖRR betrifft, so sind ihm die wenigen Beiträge, die eher rechts der Mitte zu verorten sind, wie die Auftritte des Komikers Dieter Nuhr schon ein Dorn im Auge, und natürlich müssen sie durch Sendungen ersetzt werden, die die Botschaft des eigenen, progressiven politischen Lagers verkünden und etwa den Standpunkt von vermeintlich benachteiligten ethnischen Minderheiten mit größter Lautstärke artikulieren. Man muss dann kaum noch erwähnen, dass Schubert zum Beispiel Kritik am Islam tendenziell als rassistisch einordnet (S. 30), obwohl der Islam nun mal eine Religion ist, und es durchaus Menschen aus islamisch dominierten Ländern gibt, die Christen oder Agnostiker sind. Aber gut, das weiß Schubert vielleicht einfach nicht als Politikwissenschaftler.
Immerhin, Schubert ist zugute zu halten, dass er durchaus registriert, dass ein staatliches Vorgehen gegen vermeintliche „Hassrede“ auch zu einer gefährlichen Einschränkung der Meinungsfreiheit führen kann. Das Beispiel, das er dafür anführt, passt dann aber wieder ganz ins Bild, weil er vor allem die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung eines Israel-bezogenen Antisemitismus, etwa in Form der Resolution des Bundestags zur BDS-Kampagne ablehnt (S. 91). Seine Kritik, dass der von der Politik und den Behörden verwandte Antisemitismus-Begriff oft vage sei und viele Interpretationsmöglichkeiten biete, ist sicher nicht ganz falsch. Aber genau das Gleiche lässt sich natürlich für den Rassismus- oder Sexismus-Begriff sagen, den das woke progressive Lage, dem sich Schubert zurechnet, verwendet. Das will Schubert aber offenbar nicht wahrhaben. Überdies ignoriert er, dass die von ihm gelobte Identitätspolitik zur gesellschaftlichen Spaltung und Polarisierung und damit auch zur Radikalisierung auf der politischen Gegenseite, die er gegen Ende seines Buches als große Gefahr darstellt, in massiver Weise ihren Beitrag leistet, obwohl ihm das auch ein Blick auf die USA leicht zeigen könnte.
Insgesamt hat man den Eindruck, dass Schubert trotz gelegentlicher Differenzierungen zu einem politischen Tunnelblick neigt und unter einer Neigung zur Selbstgerechtigkeit leidet. Er stellt nie in Frage, dass die eigene Seite moralisch überlegen ist. Der politische Gegner ist nicht nur einfach uneinsichtig oder schlecht informiert, er ist böse, und muss deshalb, das liegt nahe, auch im Zweifelsfall zum Schweigen gebracht werden, wenn schon nicht durch den Staat, dann eben durch soziale Einschüchterung und Bloßstellung, die in der Praxis dann leicht auf radikale Diffamierung hinauslaufen kann, und genug Beispiele für solche Kampagnen haben wir ja in den letzten Jahren durchaus gesehen.
Insgesamt bleibt nach der Lektüre dieses Buches ein tief deprimierender Eindruck, denn auch, wenn der Autor sich gelegentlich einmal mit linken anti-woken Kritikern aus dem eigenen Lager wie Susan Neiman etwas stärker sachbezogen, wenn auch eher kurz angebunden auseinandersetzt, so ist sein eigentliches Ziel doch wohl eine homogene politische Kultur zu schaffen, in der vermeintlich „rechte“ oder konservative Positionen vollständig marginalisiert werden können. Der angebliche Radikaldemokrat entpuppt sich so als Gegner einer liberalen, pluralistischen Demokratie, was freilich für seine marxistischen Vorgänger und wohl auch Vorbilder in der Epoche vor 1990 auch schon galt. Auch fragt man sich, was mit der Welt der Universität nicht stimmt, wenn jemand, der offenbar das Ideal der Wissenschafts- und Kunstfreiheit so kritisch sieht, und damit wohl doch ein Beispiel für jene „trahison des clercs“ abgibt, von der in einem anderen Kontext Julien Benda in den 1920er Jahren sprach, an deutschen Universitäten so hofiert wird wie Schubert. Eine Universität, in der das Lob der Identitätspolitik zum gefeierten neuen Evangelium wird, hat jedenfalls keine Zukunft, oder wenn, dann nur noch als eine Art Parteihochschule, nicht als Ort der Forschung und der Suche nach Erkenntnis.