
Der Charakter zeigt sich gar nicht so sehr, wenn man ohnmächtig ist. Das wahre Wesen eines Menschen offenbart sich dann, wenn er Macht hat.
„Gerrymandering“, so nennt man die völlig zurecht anrüchige Praxis, wenn eine Mehrheitspartei Wahlkreise neu zurechtschneidet – und zwar so, dass die Mehrheit dieser Partei möglichst dauerhaft gesichert wird. In den USA passiert das oft, viel zu oft. Die Democrats machen es auch dauernd, aber wenn die Republicans es tun, ist natürlich bei uns in Deutschland das Geschrei besonders groß. Dann heißt es vor allem von den Grünen: Ende der Demokratie, Faschismus.
Nach ihren eigenen Maßstäben beenden die Grünen gerade nun selbst die Demokratie in Berlin.
Im bundesweit völlig zurecht sehr schlecht beleumundeten Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg müssen die Wahlkreise für das Abgeordnetenhaus – so heißt das Berliner Landesparlament – neu zugeschnitten werden. Nach dem Landeswahlgesetz muss auf alle Wahlkreise in der Hauptstadt eine möglichst gleich große Anzahl von Wahlberechtigten entfallen.
Wegen Verschiebungen in der Einwohnerzahl zwischen den Bezirken hat das Abgeordnetenhaus die 78 Wahlkreise neu verteilt, und Friedrichshain-Kreuzberg hat jetzt statt sechs nur noch fünf. Die müssen neu zugeschnitten werden. In den vergangenen Wochen hatten die Beamten im zuständigen Bezirkswahlamt einen Vorschlag erarbeitet. Er fand auch die Zustimmung aller Parteivertreter in der Bezirksregierung, dem sogenannten Bezirksamt.
Nur die Grünen hatten andere Pläne.
Nach Recherchen des „Tagesspiegel“ hatten ihre Strategen in der Parteigeschäftsstelle einen Zuschnitt der Wahlkreise entworfen, der den Grünen bei den kommenden Wahlen größere Chancen auf ein besseres Ergebnis bietet.
In der finalen Abstimmung im Bezirksamt votierten nun die drei Stadträte der „Linken“, der SPD und der CDU einmütig für den Vorschlag des Wahlamts. Die zwei Stadträte der Grünen und die grüne Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann stimmten für den grünen Entwurf. Da bei einem Patt die Stimme der Bezirksbürgermeisterin doppelt zählt, setzten sich die Grünen durch.
Jetzt ist Polen offen – beziehungsweise Friedrichshain-Kreuzberg.
Die Sozialdemokraten toben: „Besonders bemerkenswert ist, dass ein vom Bezirksamt erarbeiteter Vorschlag, der die Zustimmung des gesamten demokratischen Spektrums von CDU bis Linke gefunden hätte, von den Grünen nicht einmal als Diskussionsgrundlage akzeptiert wurde.“
Das Ganze sei „grünes Gerrymandering“ und erinnere „an politische Praktiken, die wir sonst eher aus den USA kennen“. Die neuen Wahlkreisgrenzen hätten mit der Lebensrealität der Menschen vor Ort nichts zu tun. „Es ist erschreckend, wie wenig Wert die Grünen auf die gewachsenen Strukturen unserer Kieze legen.“
Auch die „Linke“ tobt: „Ganz offensichtlich und schamlos wurden hier die Wahlkreisgrenzen nach politischem Interesse verschoben.“ Offensichtlich würden die Grünen Panik schieben. Das Vorgehen sei „respektlos den Wählern gegenüber.“
Die CDU in Berlin tobt traditionell nicht, sondern bleibt normalerweise so wachsweich und geschmeidig wie ihr Regierender Bürgermeister Kai Wegner. Immerhin übt die CDU aber jetzt für ihre Verhältnisse ungewohnt deutliche Kritik: „Wenn Wahlkreiszuschnitte aus Geschäftsstellen von Parteien kommen und nicht den Vorschlag von Fachämtern aufgreifen und folgen, schadet das nicht nur dem Ansehen des Bezirksamtes, sondern der Demokratie im Ganzen.“ (Grammatikfehler im Original.)
Die Grünen geben die Unschuld vom Lande. Die neuen Wahlkreisgrenzen seien der „bessere Kompromiss aus Kieznähe, Bevölkerungsfairness und Kontinuität“ – was man halt so schreibt, wenn man demokratische Regeln bis zur Unkenntlichkeit verbiegt, um sich auf unlautere Weise politische Vorteile zu verschaffen.
Offenbar schwante den PR-Leuten der Partei dann doch, dass man noch irgendeinen inhaltlichen Grund für den unglaublichen Vorfall nachschieben sollte. Man entschied sich für die folgenden zwei:
Erstens hätte der vom Bezirkswahlamt erarbeitete Zuschnitt zu „unzulässig großen Unterschieden bei der Zahl der Stimmberechtigten pro Wahlkreis“ geführt. Zweitens hätten dann vier von fünf besonders kriminalitätsbelasteten Orten in einem einzigen Wahlkreis gelegen. Das wäre „unpraktikabel und politisch unverantwortlich“ gewesen.
Wie so oft bei einem Versuch, eine politische Sauerei zu vertuschen, machen diese Erklärungsverrenkungen alles nur noch schlimmer.
Dass der ursprüngliche Entwurf aus dem Bezirkswahlamt zu „unzulässig großen Unterschieden bei der Zahl der Stimmberechtigten pro Wahlkreis“ führen würde, ist schlicht und ergreifend Quatsch. Kein Fachmann aus der Verwaltung und auch niemand von den anderen Parteien teilt diese Rechtsauffassung. Sie ist offenkundig ein dreister Ablenkungsversuch. Und dass Wahlkreisgrenzen nach politischen Problemlagen festgelegt werden, findet man auch in keinem Gesetzestext irgendwo.
Definiere „Schutzbehauptung“.
Der wahre Charakter eines Menschen zeigt sich, wenn dieser Mensch über Macht verfügt. Wie setzt er sie ein? Die wahre demokratische Gesinnung der Grünen zeigt sich überall dort, wo sie über Macht verfügen. In Friedrichshain-Kreuzberg oder sonstwo.
Der „Tagesspiegel“ lässt sich übrigens zu der doch eher eigenartigen Aussage hinreißen, wegen der grünen Ungeheuerlichkeit „drohe bei den Wählern ein massiver Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen“.
Nein, liebe Kollegen, da droht nichts mehr. Der Vertrauensverlust ist längst da.