
Zwanzig Jahre hat er verdeckt oder offen gegen sie gekämpft, jetzt kämpft er mit ihrem Erbe: Immer wieder hat Friedrich Merz (CDU) die inhaltliche Entkernung der CDU unter Angela Merkel kritisiert und bis zuletzt darauf hingewiesen, dass viele Fehlentwicklungen in Deutschland nicht erst mit der Ampel-Regierung begonnen haben.
Im Wahlkampf beschwor er einen „Politikwechsel“, wollte einen Neustart für Deutschland, doch als Merz am Mittwoch seine erste Regierungserklärung hielt, rieben sich viele Parteifreunde die Augen: Aus dem Kandidaten der Attacke ist ein Kanzler für alle geworden, der seinem Vorgänger Olaf Scholz (SPD) ausdrücklich dankt, Deutschland als Einwanderungsland bewahren und mit „gutem Regieren“ überzeugen will. Allen Wohl und keinem Weh, Kuscheln statt klare Kante. Wie viel Merkel steckt in Merz?
Als „Klempner der Macht“ hatte Merz Ex-Kanzler Scholz gescholten. „Sie können es nicht. Die Schuhe, in denen Sie als Bundeskanzler der Republik Deutschland stehen, sind Ihnen mindestens zwei Schuhnummern zu groß.“ Jetzt: „Sie, Herr Kollege Scholz, und Ihre Regierung haben Deutschland durch Zeiten außergewöhnlicher Krisen geführt. Ihre Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine war wegweisend und sie war historisch. Dafür gilt Ihnen auch heute und von dieser Stelle aus noch einmal der Dank und die Anerkennung dieses Hauses und des ganzen Landes!“
Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ließ sich am 10. September 2015 in Berlin-Spandau für ein Selfie zusammen mit einem Asylbewerber fotografieren.
Vergessen auch die Migranten, die als „tickende Zeitbomben“ durch deutsche Städte liefen, wurde die Versicherung abgegeben, dass Deutschland auch in Zukunft ein Einwanderungsland bleiben werde. Und wer noch den Satz im Ohr hatte: „Jetzt werden wir wieder Politik für die Mehrheit der Bevölkerung machen, für die Mehrheit der Menschen in diesem Lande, die gerade denken und die auch noch alle Tassen im Schrank haben und nicht für irgendwelche grünen und linken Spinner“, der lernte am Mittwoch einen neuen, Merz kennen, der ganz Deutschland umarmen will: „Wir stellen uns als neue Bundesregierung gemeinsam in den Dienst unseres Landes und aller 84 Millionen Bürgerinnen und Bürger.“
Merkel lässt grüßen: Ursprünglich hatte Kanzler Merz Migranten als „tickende Zeitbomben“ bezeichnet, die durch deutsche Städte liefen. Längst versichert er, dass Deutschland auch in Zukunft ein Einwanderungsland bleiben werde.
Auffällig war bereits Merz’ erste Personalie: Die Berufung des SZ-Journalisten Stefan Kornelius als Regierungssprecher erinnerte viele Beobachter daran, wie Merkel einst den ZDF-Moderator Steffen Seibert zu ihrem Sprecher machte. Ein sympathisches Gesicht aus dem nicht-konservativen Lager, mit dem Anschlussfähigkeit auch in unionsferne Medienkreise zumindest angestrebt wird. Auch das Vermeiden klarer konservativer Linien in der Regierungserklärung folgt Merkels möglichst weit über die eigene Anhängerschaft hinaus punkten zu wollen.
Die Berufung des SZ-Journalisten Stefan Kornelius als Regierungssprecher erinnerte viele Beobachter daran, wie Merkel einst den ZDF-Moderator Steffen Seibert zu ihrem Sprecher machte.
Und auch Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ klingt bei Friedrich Merz lediglich in der Wortwahl anders: „Uns eint die Zuversicht, dass die Geschichte dieser Bundesrepublik Deutschland eine denkwürdige Erfolgsgeschichte ist, die wir fortschreiben können. Sie ist das Ergebnis vieler gemeinsamer Aufbrüche. Immer wieder haben sich die Menschen in unserem Land entschieden, die Dinge besser zu machen. Für den Aufbruch, der nun vor uns liegt, wünsche ich mir dabei, dass wir alle in Deutschland – in Nord, Süd, Ost und West – eine Fähigkeit zeigen, die wir immer wieder unter Beweis gestellt haben, die Fähigkeit nämlich, mit Mut und aus eigener Kraft das eigene Leben, die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen.“
Und schließlich plant auch Friedrich Merz offenbar einen Regierungsstil, wie ihn Merkel über weite Strecken pflegte. Er werde seine „politische Meinung nicht an der Garderobe des Kanzleramtes abgeben. Aber ich bin nicht in erster Linie CDU-Vorsitzender, der zwischendurch mal im Kanzleramt vorbeischaut, sondern ich bin der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der hin und wieder auch in seiner Parteizentrale vorbeischaut“, sagte er der Zeit. Merkels Büro als CDU-Chefin im Konrad-Adenauer-Haus war über weite Strecken verwaist, wurde meist nur benutzt, wenn die Parteigremien tagten.
Merkels Büro als CDU-Chefin im Konrad-Adenauer-Haus war über weite Strecken verwaist und wurde meist nur benutzt, wenn die Parteigremien tagten. Friedrich Merz plant offenbar einen ähnlichen Regierungsstil.
Und auch ihre persönliche Meinung hielt Merkel ausdrücklich aus ihrer Amtsführung heraus. Frauenquoten fand sie lange geradezu drollig und wunderte sich darüber, dass die „West-Frauen“ derart darein vernarrt seien. Besonders auffällig war Merkels Split zwischen Politik und Privatmeinung bei der Abstimmung über die Homo-Ehe, die sie selbst möglich gemacht hatte und in der Abstimmung gegen die Einführung stimmte.
Für Merz ist der moderate Kurs allerdings durchaus nicht ohne Risiko. Zum einen lassen sich politische Rezepte kaum kopieren und „nachkochen“, zum anderen entsprang die Beschwörung eines „Politikwechsels“ im Wahlkampf der richtigen Analyse, dass es eine verbreitete Sehnsucht nach einer drastischen Kurskorrektur in Migrations-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in Deutschland gibt, der sich u.a. in der hohen Zahl von Protestwählern für AfD und Linke zeigt.
Diesen versprochenen „Wechsel“ nun schuldig zu bleiben und ausdrücklich nicht liefern zu wollen, kann in politisch windstillen Zeiten funktionieren, in einer aufgewühlten, polarisierten Gesellschaft stärken falsche Kompromisse eher die Ränder.
Lesen Sie auch:Schulden, Rente, Mindestlohn: Warum Kanzler Friedrich Merz ein ungemütlicher Herbst bevorsteht