
Friedrich Merz ist ein Getriebener, getrieben von den Folgen des Verrats an seinen Wähler. Er stellt jeden deutschen Comedian in den Schatten. Seine Regierung wird das Kabarett arbeitslos machen. Immer bizarrer geraten die Versuche, seine Taten in Rhetorik aufzulösen. So wie seine Kanzlerschaft mit Tricksereien beginnen wird, werden sie Tricksereien erhalten. Der Mann aus dem Sauerland ist ein lausiger Schüler Hegels, was er betreibt ist nicht Dialektik, sondern Diaeklektik, nicht die Negation der Negation, sondern die einfache Negation der Position in der Form der erwünschten Amnesie.
Der CDU-Chef sehnt sich nach Vertrauen wie der Bankrotteur nach dem nächsten Kredit. Doch verdient Friedrich Merz Vertrauen? Wie glaubwürdig ist er? Während er im Wahlkampf auf die Schuldenbremse pochte, hat er, wie er das gerade Bild gegenüber ausplauderte, „das immer mal wieder – auch intern zu meinen Kollegen – gesagt: Lasst uns mal nicht zu sehr darauf fixiert sein, dass wir sie nie und nimmer ändern. In unserem Leben ist nichts für die Ewigkeit.“ Was versteht Friedrich Merz unter „Ewigkeit“? Überstehen seine Aussagen den Moment, indem er sie äußert? Merz trickst, er bezieht Position laut vor der Öffentlichkeit und äußert an entlegenem Ort das Gegenteil, um sich gegebenenfalls darauf beziehen zu können. Die Methode hat allerdings den Nachteil, dass sich dadurch Aussagen auf Ausreden reduzieren.
Nachdem nun auch der Klimaschutz ins zu ramponierende Grundgesetz kommen wird, behauptet Merz – und die Lacher sind ihm sicher, wenngleich manche unter ihnen ausgesprochen gallig: „Ein Grüner werde ich sicher nicht. Aber ein Kanzler, der sich der umweltpolitischen Verantwortung stellt.“ Stimmt, ein Grüner wird Merz nicht, er ist es schon. So seine neueste Mimikry. Nicht, dass er seine Wahlversprechen durch die Übernahme aller Forderungen der Grünen, ohne mit der Wimper zu zucken ersetzt hat, macht ihn schon zum Grünen, sondern erst der Verlust der Fähigkeit, die Wirklichkeit wahrzunehmen.
Bei den Grünen mag die Unfähigkeit zur Betrachtung der Realität Folge ihrer in sich geschlossenen, totalitären Ideologie sein, bei Friedrich Merz liegt das schwer erklärliche Verhalten vermutlich im Kompass, den er von seinem früheren Arbeitgeber BlackRock zum Eintritt in die Welt der Vermögensverwalter, der Hedgefonds und der Investmentbanken geschenkt bekommen hatte, ein Kompass, der auf Wall Street und Londoner City eingenordet ist.
Stellt man mit Blick auf die gigantische Verschuldung die alte römische Gerichtsfrage: Cui bono, wem nutzt es, dann lautet die Antwort: BlackRock und Co. Sie profitieren von der Verschuldung der deutschen Bürger. Habecks Chefin der Grundsatzabteilung im De-Industrialisierungs- und Klimaschutzministerium, Elga Bartsch, hat folgenden biographischen Hintergrund: „Leiterin der Volkswirtschafts- und Kapitalmarktforschung Blackrock London, Globale Ko-Leiterin Volkswirtschaft und Chefvolkswirtin Europa Morgan Stanley. Mitglied des EZB-Schattenrates…“ Schattenrat, besser kann man es nicht ausdrücken. Wie nennt man das, wenn der Schatten die Wirklichkeit beherrscht? Gespenstisch.
Friedrich Merz gelingt das Musterbeispiel eines Oxymorons, wenn er sagt: „Ein Grüner werde ich sicher nicht. Aber ein Kanzler, der sich der umweltpolitischen Verantwortung stellt.“ Denn der „Kanzler“, der seine „umweltpolitische Verantwortung“ wahrnehmen will, erfüllt die grüne Ideologie; denn die „umweltpolitische Verantwortung“ besteht nach gängiger Definition im „Klimaschutz“ – und ein Politiker, der nach Maßgabe der grünen Ideologie handelt, ist ein Grüner. Quod erat demonstrandum. Merzens Äußerung stellt bei Lichte besehen eigentlich eine Tautologie dar, die da lautet: ich werde kein Grüner, weil ich schon einer bin, da ich die Ideologie der Grünen umsetze. Es erzeugt fast Mitleid, dass Merz zur Täuschung nicht das Attribut „klimapolitisch“, sondern „umweltpolitisch“ verwendet, wo er doch Klimaneutralität, also Klimaschutz und nicht „Umweltschutz“ ins Grundgesetz aufnehmen will. Merz ähnelt dem Surfer auf dem Brett, der von Welle zu Welle reitet und dabei ausruft: Aus mir wird bestimmt kein Surfer, aber ein Mann, der keiner Wellen ausweicht.
Sowohl Friedrich Merz als auch die Grünen leben in einer Welt, die sie sich imaginieren. Die Damen und Herren von Neu-Versailles haben sich sogar eine Sammelbezeichnung, sozusagen einen eigenen Parteinamen genehmigt, der erhaben klingen soll, sie aber doch nur entlarvt und die heillose Konfusion beschreibt, in der Deutschland versinkt. Das, was in der DDR „Nationale Front des demokratischen Deutschland“ hieß, modifizieren Linke, SPD, Grüne, FDP und Union, in dem sie sich die „Parteien der demokratischen Mitte“ nennen. In der Verfassung der DDR von 1968 heißt es: „(1) Das Bündnis aller Kräfte des Volkes findet in der Nationalen Front des demokratischen Deutschland seinen organisierten Ausdruck. (2) In der Nationalen Front des demokratischen Deutschland vereinigen die Parteien und Massenorganisationen alle Kräfte des Volkes zum gemeinsamen Handeln für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Dadurch verwirklichen sie das Zusammenleben aller Bürger in der sozialistischen Gemeinschaft nach dem Grundsatz, daß jeder Verantwortung für das Ganze trägt.“ Ersetzt man das Attribut sozialistisch durch klimaneutral oder demokratisch, passt es.
Linguistisch gesprochen ist der Begriff „demokratische Mitte“ eine Überdetermination, und Überdeterminationen führen in manchen Fällen zur Parodie, so auch hier. Wenn die Parodie allerdings nicht mehr als Parodie erkannt wird, offenbart das ein Störungsverhältnis in der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Entweder ist die Mitte demokratisch, dann bedarf es in einer Demokratie nicht des in diesem Fall tautologisierenden Attributs „demokratisch“ oder es existiert neben der demokratischen Mitte noch eine undemokratische Mitte. Wer oder was soll die undemokratische Mitte sein? Da aber die Mitte den von allen Seiten gleichweiten Punkt darstellt, kann es nur eine Mitte geben, die übrigens dadurch stabilisiert, dass sie normiert und vermittelt. Wenn aber im Parteienspektrum linke Parteien wie Linke, Grüne und SPD die „demokratische Mitte“ bilden, und die Union das Programm linker Parteien wie Grüne und SPD, und demnächst, steht zu vermuten, auch Positionen der Linken eskamotiert, kann der Begriff „demokratische Mitte“ nur die Herrschaft der Linken meinen. Beim „demokratischen Deutschland“ der SED aus KPD und SPD war die CDU ja auch mit dabei.
Die weitreichenden Folgen der Politik des Verrats hat man in der Union noch nicht begriffen – und Friedrich Merz interessieren sie nicht. Was die Union in diesen Tagen betreibt, ist nichts Geringeres als der politische Zusammenbruch der Mitte. Das wird zu großen Kämpfen und Verwerfungen in der Gesellschaft führen, zu einer Zeit der Wirren, die man in der Bundesrepublik bisher nicht kannte. Der Union gelingt es, da mag sie wie einen Abwehrzauber den irreführenden Begriff „demokratische Mitte“ vor sich herträllern, wie sie will, die politische Mitte in ein Vakuum, in eine politische Leerstelle zu verwandeln, weil die Mittelschichten politisch nicht mehr vertreten werden und die „demokratische Mitte“ eben nicht mehr zwischen rechts und links zu vermitteln vermag, da sie in der politischen Linken aufgeht. Erleichtert wird dieser Prozess durch die Ambiguität, dass die Grünen zwar zu den Mittelschichten gehören, aber politisch links agieren. Als Chimära sind die Grünen ein typisches Dekadenzphänomen.
Von nun an stehen die Angehörigen der Mittelschichten also bei jeder Wahl vor der Entscheidung, links oder rechts zu wählen. Der Verrat der Union findet sich letztlich darin, dass zwischen links und rechts nichts mehr existiert, der Bürger sich nur noch zwischen rechts und links zu entscheiden vermag, weil der tautologisierende Euphemismus „demokratischen Mitte“ nur ein anderes Wort für Rotgründunkelrot ist.
Aber „rechts“ wird mit dem Scheitern der grünen Politik der „demokratischen Mitte“ für immer mehr Wähler, die eigentlich die Mitte wählen wollten, entweder attraktiver oder zur letzten Notwehr gegen ein grünsozialistisches Deutschland. Die Union hat, indem sie die Ver-Mittler-Rolle nicht wahrnimmt, die unüberbrückbare Frontstellung, das manichäische Entweder-Oder als absoluten Gegensatz erschaffen. Die neue Volksfront aus Linken, Grünen und SPD steht, der sich nun die Merkel-Merz-Union als „nützliche Idiotin“, wie Lenin sagen würde, anschließt.
Das deutsche Bürgertum hat wieder einmal versagt. Tagesschau, Tagesthemen, heute und heute journal, um Karl Marx zu zitieren, sind das Opium der Mittelschicht. „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf“: Doch große Teile der Mittelschicht, des Bürgertums sind noch nicht bereit, die Illusionen, die ihnen von den Medien Neu-Versailles‘ vermittelt werden, aufzugeben. Noch flüchten sie in diese Illusionen.
Und um bei Karl Marx zu bleiben: „Den Hauptstock der deutschen Moral und Ehrlichkeit, nicht nur der Individuen, sondern auch der Klassen, bildet vielmehr jener bescheidene Egoismus, welcher seine Beschränktheit geltend macht und gegen sich geltend machen lässt.“ Marx kommt, als er vom Anachronismus der deutschen Verhältnisse spricht, zu dem Schluss: „Es gilt die Schilderung eines wechselseitigen dumpfen Drucks aller sozialen Sphären aufeinander, einer allgemeinen, tatlosen Verstimmung, einer sich eben sosehr anerkennenden als verkennenden Beschränktheit, eingefasst in den Rahmen eines Regierungssystems, welches, von der Konservation aller Erbärmlichkeiten lebend, selbst nichts ist als die Erbärmlichkeit an der Regierung.“
Der Anachronismusschub der dysfunktionalen Eliten von Neu-Versailles wird zum Zerfall oder zur brachialen Entfesselung eines Modernisierungsschubs führen. Dass die notwendige Modernisierung Deutschlands nicht mehr elegant, nicht mehr ohne Opfer, nicht mehr freundlich einsetzen wird, daran trägt die Union, daran trägt Friedrich Merz die Schuld.
Eine hübsche Ironie der Geschichte besteht darin, dass die zur Herrschaft gelangten Nachfahren von Karl Marx, die ihren Stammherrn ganz vergessen haben, zum idealen Ziel von Marxens politischer und ökonomischer Kritik werden, und man den versteinerten Verhältnissen nur ihre Melodie vorzuspielen braucht, um sie zum Tanzen zu bringen. Und Friedrich Merz tanzt fleißig mit. Und das deutsche Bürgertum? Versagt wie immer im Angesicht der Geschichte. Wie hieß es doch bei Marx: „In Frankreich genügt es, daß einer etwas sei, damit er alles sein wolle. In Deutschland darf einer nichts sein, wenn er nicht auf alles verzichten soll. In Frankreich ist die partielle Emanzipation der Grund der universellen. In Deutschland ist die universelle Emanzipation conditio sine qua non jeder partiellen. In Frankreich muss die Wirklichkeit, in Deutschland muss die Unmöglichkeit der stufenweisen Befreiung die ganze Freiheit gebären.“
Wir gehen stürmischen Zeiten entgegen.