
Wir dürfen keinen Millimeter weichen für jene, die unsere Freiheit nicht zu schätzen wissen. Heute vor zehn Jahren wurden die Journalisten des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo in ihrer Redaktion erschossen, weil sie sich die Freiheit nahmen, eine Religion zu beleidigen. Das sollten wir nicht vergessen, und beim Namen nennen. Und um es vorwegzunehmen: Ich bin immer noch Charlie.
Polizei und Rettungskräfte vor den Redaktionsräumen der Pariser Redaktion von Charlie Hebdo. Zwölf Menschen verloren durch den islamistischen Anschlag ihr Leben.
„Und, sind Sie auch Charlie?“, fragte damals mein Banksachbearbeiter, nachdem ich auf die Frage nach meinem Beruf „Journalistin“ geantwortet hatte. Viele waren seinerzeit „Charlie“, ja, die Solidarität mit den Opfern in Paris war groß. Bei uns im Land und auch weltweit. Tausende Facebooker veränderten ihre Profilbilder, aber genauso sicher, wie das Amen in der Kirche, hatte es nur wenige Tage gedauert, bis die Differenzierer auf den Plan gerufen wurden. Am Tag der Geiselnahmen in Paris fuhr ich gerade Taxi in Berlin, während sich die französischen Sondereinheiten vor der Druckerei und dem jüdischen Supermarkt in Stellung brachten. Der Taxifahrer war kein potenzieller „Charlie“. Ich konnte seine Nationalität trotz Akzent nicht ausmachen, möglicherweise war er sogar Franzose. Ich habe nicht gefragt. Sein Standpunkt jedenfalls: „Warum mussten die das auch veröffentlichen, das hätte man ja wissen können, dass sowas passiert.“
„Je suis Charlie“ – Solidaritätsdemo in Lyon
Ein Moslem? Ich weiß es nicht. Aber auch aus dem christlichen Lager kam zunehmend Kritik, nachdem so mancher recherchiert hatte, was für Karikaturen bei „Charlie Hebdo“ in der Vergangenheit erschienen sind. Auch mit uns Christen ging man in dem Satire-Magazin nicht gerade zimperlich um. Sind wir immer noch Charlie, auch dann, wenn unsere eigene Religion aufs Korn genommen oder gar beleidigt wird?
Und so bestätigte ich dem Angestellten am Bankschalter auch gerne: „Ja, ich bin Charlie, aber ich bin auch gespannt, wie viele immer noch Charlie sind, wenn es um ihren eigenen Kopf geht!“ – und wenn die Frage nach der Solidarität sich nicht mit einem Wechsel des Profilbildes bei Facebook erledigen lässt. Denn ein Bild zu tauschen, tut nicht weh, ist schnell gemacht und man bewegt sich damit gerade sowieso im Strom der breiten Masse.
Gesicht zu zeigen ist ein Anfang, es bis zur letzten Konsequenz durchzuhalten, oft etwas ganz anderes. Auch Prominente zeigten damals vor zehn Jahren gerne immer wieder Gesicht. Es existierte eine ganze Kampagne dazu unter dem Namen www.gesichtzeigen.de.
Da war dann Klaus Wowereit Migrant, wenn jemand was gegen Migranten hat, Jörg Thadeusz war schwul, wenn jemand etwas gegen Schwule hat, Ulrich Wickert war Jude, wenn jemand etwas gegen Juden hat und Markus Kavka gar schwarz, wenn jemand was gegen Schwarze hat. Das ist auch gut so, so wird Flagge gezeigt. Aber es braucht für derlei Bekenntnisse genauso wenig Mut wie für den Profilbild-Wechsel bei Facebook.
Denn sind wir wirklich immer noch „schwarz“, „schwul“, „Jude“ oder „Migrant“, wenn unser Nebenmann angegriffen wird? Kurz nach der Ermordung der Satiriker von Charlie Hebdo bekam damals Ralf König auf Facebook und Co. von allen Seiten die Comiczeichner-Jacke vollgehauen, weil er nicht mehr ganz Charlie sein mag. Aus Angst hatte er eine Karikatur zurückgezogen, die sich mit dem Islam beschäftigte. Bei ihm steht ja auch nicht nur ein Profilbild, sondern – wie Paris gezeigt hat – wesentlich mehr auf dem Spiel. Eine allzu menschliche Reaktion! Und all den Heuchlern, die ihn verurteilen, würde ich gerne zurufen: Euch möchte ich mal in der gleichen Situation erleben. Nämlich dann, wenn es persönlich wird und die Angst nicht abstrakt, sondern konkret begründet werden kann.
Das zeigt aber gleichzeitig, warum es so wichtig ist, dass wir auch weiterhin Charlie sind. Weil die Angst im Kopf uns sonst lähmt.
Und dann nutzt es nichts, dass gesetzlich keine Zensur existiert, weil diese Gesetze dann nicht mehr das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Wir dürfen nicht zurückweichen. Auch und gerade nicht als Christen. Auch wenn wir selbst mit manchen Karikaturen hadern. Beleidigt sein darf man trotzdem. Denn der Grad von persönlicher Entrüstung ist bei allen unterschiedlich. Ich jedenfalls habe Tränen gelacht beim Kinoklassiker „Life of Brian“ und Monty Pythons „Catholic Song“ ist einfach ganz großes Kino. Aber auch ich war schon oft empört, weil mir manches, was unter Satire und Kunst verkauft wird, zu weit ging.
Als etwa 2003 der Musiksender MTV die Comic-Serie „Popetown“ mit einem infantilen Papst und korrupten Kardinälen ausstrahlte, habe ich eine Gegenkampagne dazu organisiert. „Würden Sie auch Mohammed-Town“ ausstrahlen, fragte ich damals in einem offenen Brief die MTV-Geschäftsführerin Catherine Mühlemann. „Kein Christ wird Ihnen bei Ausstrahlung die Studiofenster zertrümmern, handelt es sich doch beim Christentum um eine Religion des Friedens. Wir verdienen aber nicht weniger Respekt als andere Religionen.“ 50.000 Menschen beteiligten sich damals an den Protesten, verschiedene Organisationen, Politiker und sogar der Zentralrat der Juden protestierte, genutzt hat es nichts. Die Serie erledigte sich letztendlich selbst mit niedrigen Einschaltquoten dank ihres unterirdischen Niveaus.
Szene aus der Papst-Satire „Popetown“.
Aber selbst, wenn es ein Erfolg geworden wäre, hätten wir weiter protestiert: friedlich und ganz sicher nicht mit dem Maschinengewehr. Wir sind ein Land, in dem diese Debatten immer und immer wieder neu mit Worten und nicht mit Waffen ausgetragen werden. In unserem Land darf man kritisieren und sich auch empören. Wir dürfen unsere eigene Regierung anprangern und uns über Religionen lustig machen. Das tut weh, wenn man selbst betroffen ist, dieses Recht dürfen wir aber nicht riskieren. Für keinen persönlichen Grad an Beleidigtsein.
Wenn wir also Rücksicht nehmen auf Religionen, dann aber bitte auf alle. Wenn Religionen aber Kritik, Humor oder Satire aushalten müssen, dann bitte auch alle. Ich halte nichts von Blasphemie-Gesetzen, aber umso mehr vom freien Diskurs, der nicht nur in der Religionsfrage derzeit ins Hintertreffen gerät. Die Frage, ob „der Islam“ zu Deutschland gehört, ist also die falsche. Die Frage ist: Will der Islam zu Deutschland oder gar zu Europa gehören? Sind alle seine Gläubigen bereit, friedlich hinzunehmen, dass im Namen von Meinungsfreiheit, Kunst oder Satire der eigene Glaube beleidigt werden darf?
Denn erst dann ist der Islam wirklich im freien Europa angekommen und diese Frage können die Muslime nur unter sich ausmachen. Es ist nicht an uns, ihnen ihre Religion zu erklären. Wir sollten aber langsam klären, wofür wir selbst stehen. Integration kann nur von jemandem erwartet werden, dem man auch erklären kann, in was er sich integrieren und wie weit das reichen soll.
Wir werden den gemeinsamen Nenner aufzeigen müssen, die „Conditio-sine-qua-non“, ohne die sich unsere Gesellschaft sonst immer weiter auseinander bewegt. Ich habe damals von Catherine Mühlemann keine Antwort auf meine Frage bekommen. Ich weiß nicht, ob sie heute Charlie ist. Ich wünsche mir keinen Raum für diese Angst, die uns lähmt, Debatten ehrlich zu führen.
Für Menschen, die unsere Freiheit nicht zu schätzen wissen, weiche ich keinen Millimeter. Ich bin Birgit Kelle. Und ich bin immer noch Charlie.
Mehr von Birgit Kelle:Die verlorene Unschuld der Silvesternacht: An dieses „Normal“ will ich mich nicht gewöhnen