
Es ging um Windräder, die Unterbringung von Migranten und die AfD-Beobachtung durch den Verfassungsschutz: Für ein Interview hat die Lippische Landes-Zeitung (LZ) mit dem AfD-Kandidaten für das Bürgermeisteramt in Extertal, Jirka Möller, gesprochen. Skandalös und verstörend: Im Anschluss an das Interview meldete die Redaktion ihren Gesprächspartner den Behörden.
„Im Original-Interview fielen Aussagen, die unserer Meinung nach verfassungswidrig sein oder rechtsextremistische Tendenzen des Interviewten offenbaren könnten. Wir werden diese nicht veröffentlichen und haben diese Aussagen an die verantwortlichen Behörden zur Prüfung weitergeleitet“, heißt es in einem Text, der in der Online-Version noch vor Beginn des Interviews zu lesen ist.
NIUS wollte von der Zeitung wissen: Begehen Journalisten, die ihre Gesprächspartner bei Behörden melden, nicht einen schwerwiegenden Bruch des journalistischen Berufsethos und Ehrenkodex? Dirk Baldus, Chefredateur der Lippischen Landes-Zeitung: „Bei möglicherweise strafrechtlich relevanten Äußerungen nicht. Wir reden hier nicht über politische Meinungsäußerung.“ Der Vorgang ist bislang einzigartig für die Zeitung, zuvor habe man noch nie Inhalte von Interviews angezeigt, so Baldus.
Auf eine Nachfrage, um welche Aussagen es sich konkret handelt, ging Baldus nicht ein. Auch der beim Innenministerium Nordrhein-Westfalen angesiedelte Verfassungsschutz des Landes reagierte nicht auf eine Anfrage dazu, welche Aussagen zur Anzeige gebracht wurden. Den Vorwurf eines denunziatorischen Vorgehens, wie er zuletzt auf X aufkam, will sich Baldus nicht gefallen lassen: „Wir orientieren uns an der journalistischen Sorgfaltspflicht und an Recht und Gesetz.“
Journalisten wird eigentlich ein besonderer Schutz gegenüber ihren Quellen und Gesprächspartnern eingeräumt. Selbst wenn beispielsweise ein Whistleblower auf strafrechtlich relevante Weise an Informationen gelangt und diese an Journalisten weitergibt, dürfen Pressevertreter gegenüber Behörden die Identität des Hinweisgebers verschweigen.
Möller selbst erklärt gegenüber NIUS, er habe erst nach der Veröffentlichung des Interviews davon erfahren, dass er von der Redaktion bei den Behörden gemeldet wurde. Die Redaktion habe keinen Kontakt zu ihm aufgenommen, auch ihm sei nicht mitgeteilt worden, welche Aussagen zur Anzeige geführt hätten. Er könne sich nicht an Aussagen erinnern, die derart kompromittierend gewesen sein könnten, dass man sie den Behörden melden müsse.
Der AfD-Politiker Jirka Möller.
Auf der Plattform LinkedIn präsentierte eine Redakteurin der Zeitung die Passage, in der die Meldung angekündigt wurde, und lobte die Redaktionsleitung dafür, dass „verfassungswidrige und rechtsextremistische Aussagen erst gar nicht abgedruckt, sondern an die verantwortlichen Behörden weitergeleitet“ würden.
„Ich bin froh, dass die Redaktionsleitung hier eine klare Linie vorgelegt hat“, schreibt Janet König, und erhält für ihren Text viel Zuspruch.
Eine Welt-Journalistin kommentierte mit den Worten „richtig und wichtig“, gefolgt von einem Emoji, das Applaus ausdrücken soll.
Auch auf X fand die Praxis des Mediums neben viel Kritik auch Zuspruch. Kai Doering, stellvertretender Chefredakteur der Berliner vorwärts Verlagsgesellschaft mbH, twitterte: „Wie man als Journalist mit Politikern der AfD umgehen kann, zeigt die Lippische Landes-Zeitung hier vorbildlich“.
Wie man als Journalist mit Politikern der AfD umgehen kann, zeigt die Lippische Landes-Zeitung hier vorbildlich. 👏 pic.twitter.com/Q4v6E4uubR
Dass man offenbar bereits im Vorfeld von Interviews mit AfD-Politikern damit rechnet, den Gesprächspartner im Anschluss an das Gespräch möglicherweise anzuzeigen, macht eine am 5. August veröffentlichte „Richtlinie“ des LZ-Chefredakteurs klar. In dieser erläutert er den „Umgang mit den AfD-Kandidaten“ unter der Überschrift „Das Kreuz mit der AfD: Unsere Regeln im Wahlkampf“.
Dirk Baldus, Chefredakteur der LZ, erklärt den Umgang des Blatts mit der AfD.
Nachdem Baldus den AfD-Kandidaten zugesteht, bei Vor-Ort-Veranstaltungen „ihre Sicht der Dinge zu äußern“, schreibt der Chefredakteur: „Bei den Interviews gestaltet sich unsere Richtlinie vielschichtiger.“ Er erklärt: „Die ersten Interviews mit AfD-Kandidaten, die der LZ zur Veröffentlichung freigegeben wurden, zeichnen sich teilweise durch ein besonderes Merkmal aus. ‚Flood the Zone with Shit‘ (harmlos übersetzt: Überflute die Zone mit Mist) ist ein Satz, der vom ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon geprägt wurde.“
Baldus weiter: „Durch Verwirrung sollen gezielt falsche Narrative verbreitet werden, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Ein Muster, das sich die AfD landes- und bundesweit immer wieder zu eigen macht. Aus diesem Grund wird die LZ diese Interviews gegebenenfalls kommentiert veröffentlichen. Wir werden alle Aussagen inhaltlich auf ihren Wahrheitsgehalt checken und diese – wenn sie falsch sind – in einem danebenstehenden Text widerlegen. Fallen in diesen Interviews Aussagen, die unserer Meinung nach der Verfassung widersprechen könnten, werden wir diese nicht veröffentlichen, sondern an die verantwortlichen Behörden zur Prüfung weiterleiten. Und Sie als Leserinnen und Leser transparent über diesen Schritt informieren.“
Die Redakteure der Lippischen Landes-Zeitung meldeten ihren Gesprächspartner nicht nur an die Behörden – sie kommentierten auch jede Aussage direkt unter dem Gesagten in Faktenchecker-Manier. So verfährt die Zeitung bei allen AfD-Politikern. Dabei ist es eine Wesensart des journalistischen Genres „Interview“, dass die Aussagen des Interviewten für sich stehen – ganz egal, ob sie dem Journalisten nun gefallen, er sie für korrekt hält oder glaubt, dass sie einer Einordnung bedürfen.
„Der Leser soll sich selbst ein Bild machen“, war lange oberstes Postulat in den Redaktionsstuben. Mit dem neuen Faktenchecker-Furor und dem fast zwanghaften Versuch, alles Gesagte ins eigene Weltbild einzuordnen, verliert das wortgetreu aufgezeichnete Gespräch an Authentizität.
Wo der Interviewer dem Interviewten im Gespräch normalerweise die Gelegenheit gibt, auf einen möglichen Einwand zu reagieren, wird dem Leser die Interpretation des Journalisten hier als absolute Wahrheit, als unumstößlicher Fakt verkauft.
So fühlten sich die Redakteure beispielsweise bemüßigt, folgende zwei Aussagen von Möller gesammelt einzuordnen: „Ich bin nicht für Windkraft. Mit der, die wir haben, müssen wir natürlich arbeiten und versuchen, Nutzen daraus zu ziehen. Doch die Anlagen sind sehr umweltschädlich, weil viel zerstört wird von den Investoren. Ohne Staatssubventionen will man das gar nicht hinstellen, weil es sich nicht rentiert. Und die Kosten für einen Rückbau sind sehr hoch.“ Und: „Deutsche Wissenschaftler haben in Südafrika ein Atomkraftwerk gebaut, das Atommüll auf ein Minimum reduziert und der Rest sich in ein paar Hundert Jahren abbaut. Das ist alles schon erfunden. Nur ein Herr Habeck hat immer noch seinen ‚Atomkraft-Nein-Danke‘-Aufkleber aus den 80ern.“
Der Faktencheck konstatierte: „Moderne Windkraftanlagen sind effizient und können sich innerhalb von 10 bis 15 Jahren amortisieren – bei einer Lebensdauer von etwa 20 bis 25 Jahren. Sie erzeugen innerhalb von wenigen Monaten die Energie, die zu ihrer Herstellung benötigt wurde. Südafrika entwickelte ab den 1990er-Jahren gemeinsam mit deutschen Partnern den Pebble Bed Modular Reactor (PBMR) – ein innovatives Atomreaktorkonzept auf Basis der deutschen Kugelhaufen-Technologie. Ziel war ein besonders sicherer, modularer Reaktor mit deutlich weniger Atommüll. Das Projekt wurde 2010 aus Kostengründen gestoppt, noch bevor ein Prototyp gebaut wurde.“
Davon, dass auch die Windkraft hochsubventioniert ist und Betreiber ohne Geld vom Staat keine Chance hätten, mit dieser Energie-Form zu überleben, wird kein Wort verloren. Möller berichtet gegenüber NIUS, er habe der Redakteurin davon berichtet, dass in Ruanda erfolgreich ein deutscher Dual-Fluid-Reaktor gebaut werde, was diese ihm nicht geglaubt habe. Auch davon findet sich im abgedruckten Interview nichts.
Ein weiterer Faktencheck folgte auch auf Möllers Antwort auf die Frage, ob er gendere. Der Bürgermeisterkandidat: „Nein. Weil das eine Verrohung der deutschen Sprache ist. Das ist George Orwell.“
In der Absicht, die Stoßrichtung von Möllers Aussage zu widerlegen, bestätigte und verstärkte der „Faktencheck“ diesen ungewollt: „George Orwell zeigt in seinem Buch „1984“, wie ein totalitärer Staat durch radikale Sprachplanung die Ausdrucksfähigkeit und damit das Denken seiner Bürger einschränken kann. Rechte Verschwörungsnarrative übernehmen das Bild von Orwells „Newspeak“ und behaupten, Sprache werde heute bewusst manipuliert, um Kritik und Andersdenken zu unterbinden.“
Ein vergleichbar erschütternder Vorfall von Vertrauensmissbrauch durch zwei Journalisten des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) wurde Ende des vergangenen Jahres publik. Die beiden Männer sollen einen Informanten, der brisante Details über den Thüringer Verfassungsschutzpräsidenten Stephan Kramer aufdecken wollte, direkt an diesen verraten haben.
Der Thüringer Verfassungsschutz-Präsident Stephan Kramer.
Lesen Sie auch: Quellenschutz-Skandal: MDR lieferte Insider-Quellen dem Verfassungsschutz aus