
Im deutschen Bundestag ist am letzten Freitag eigentlich etwas ganz Normales für eine Demokratie passiert. Es gab keine parlamentarische Mehrheit für eine Person. Dass diese Normalität jedoch zum Skandal gemacht wird, zeigt: Es gibt eine große Demokratieangst im Reichstag.
Der deutsche Bundestag, die wichtigste demokratische Institution der Bundesrepublik. Große Debatten, Repräsentation der Bevölkerung und des Wählerwillens, eine demokratische Vorzeigeinstitution eben, das sollte mit so einem Parlament verbunden werden. Die Posse um Frauke Brosius-Gersdorfs Kandidatur für das Bundesverfassungsgericht deutet aber eher darauf hin, dass dieser Bundestag das ist, was Friedrich Merz im Zusammenhang mit der Regenbogenflaggen-Debatte in ihm auf keinen Fall sehen wollte, nämlich ein Zirkuszelt.
Um genau zu sein: das größte, teuerste und chaotischste Zirkuszelt Deutschlands. Worum geht es? Eigentlich um nichts Außergewöhnliches. Mit Brosius-Gersdorf möchte eine Person Bundesverfassungsrichterin werden, die vor allem mit ihrer Nichtanerkennung der Menschenwürde von Ungeborenen für die christliche Union kaum wählbar sein kann. Bundesverfassungsrichter müssen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament gewählt werden, weswegen sie so gut wie immer Konsenskandidaten ohne zu große Ecken und Kanten sind. Gibt es doch Zweifel an ihrer Neutralität, ist eine Ablehnung keine Besonderheit. So wurde zum Beispiel Robert Seegmüller, ein Kandidat der Union, von den Grünen abgelehnt, weil er ihnen zu migrationskritisch ist.
Der Unions-Kandidat Robert Seegmüller ist den Grünen zu migrationskritisch.
Bundesverfassungsrichter haben eine zwölfjährige Amtszeit, sie können mächtiger sein als Bundeskanzler und Minister. Ihre Wahl im Bundestag ist aus guten Gründen geheim, eine öffentliche Debatte um ihre Person ist als demokratischer Normalzustand anzusehen. Wer sich zur Wahl stellt, trägt zudem das Risiko, nicht gewählt zu werden. Auch das sollte eigentlich spätestens seit der ersten Klassensprecherwahl in der Grundschule jedem bekannt sein. So gesehen könnte die Ablehnung von Brosius-Gersdorf von ihren Fans mit erwachsener Fassung ertragen werden und die Suche nach der nächsten Kandidatin begonnen werden. Erwachsenes Verhalten und der deutsche Bundestag sind allerdings schwer vereinbar.
„Heute ist ein schlechter Tag für das Parlament, für die Demokratie und für das Bundesverfassungsgericht“, verkündete die grüne Fraktionschefin Britta Haßelmann mit bebender Stimme in der Freitagsdebatte zur Absetzung der Wahl. Es sei eine „unverantwortliche Situation“, Friedrich Merz habe seinen Amtseid verletzt, Schaden vom Volk abzuwenden. Grünen-Chef Felix Banaszak klagte auf X an, dass die Union sich „aus der demokratischen Mitte unseres Landes“ verabschiedet hätte. Annalena Baerbock sorgte sich um die bedrohte Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Katrin Göring-Eckardt verstieg sich auf X zu der Behauptung, dass dieser Vorgang „die bisher stabil geglaubten Grundfesten unserer demokratischen Grundordnung“ erschüttere. Die grüne Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor sah in der abgesetzten Wahl einen „Tiefpunkt deutscher Parlamentsgeschichte“. Ich möchte mal davon ausgehen, dass sie hoffentlich nur die bundesdeutsche Parlamentsgeschichte meinte. Erik Marquardt, Europaabgeordneter der Grünen, sprach sogar von „Machtergreifung“, deren „zentraler Baustein“ die „Politisierung der Justiz“ sei.
Natürlich ist auch die SPD besorgt um die Demokratie im Land. Ralf Stegner „möchte Geschichtsbücher über das Ende der Weimarer Republik verschenken!“, andere Politiker sagten und schrieben Ähnliches wie die Grünen. Die linken Parteien im Bundestag scheinen ernsthaft zu glauben, dass im Grundgesetz Folgendes steht: „Gibt es im Parlament für einen linken Inhalt oder für eine linke Person keine Mehrheit, ist die Demokratie in Gefahr.“
Der SPD-Politiker Ralf Stegner „möchte Geschichtsbücher über das Ende der Weimarer Republik verschenken“.
Es ist wahrlich absurd. Eine Kandidatin für das wichtigste juristische Amt der Republik wird aufgrund von erheblichen Zweifeln an ihrer Unabhängigkeit nicht gewählt und es wird der Untergang der Demokratie heraufbeschworen; natürlich gibt es Weimar-Vergleiche und jämmerliche Versuche, die Union als Rechtsaußen-Partei zu diffamieren. Sind deutsche Linke wirklich nur solange Demokraten, wie sie ihren Willen bekommen?
Nicht nur die übliche linke Hysterie macht den Bundestag zur Clownshow. Die Union selbst hat mit ihrer institutionalisierten Demokratieangst einen erheblichen Anteil daran. Anstatt inhaltlich gegen die Wahl von Brosius-Gersdorf zu argumentieren, wird sich aus Feigheit auf Plagiatsvorwürfe bezogen, die es so gar nicht gibt. Anstatt die Wahl durchzuziehen, wird sie verzögert. Wahlen, bei denen das Ergebnis nicht vorher feststeht, sind schließlich ganz gefährlich. Anstatt endgültig zu der eigenen Ablehnung der Kandidatin zu stehen, wird jetzt noch mal mit ihr gesprochen. Was so ein Gespräch bringen soll, außer einen Anlass zum Umkippen zu bieten, erschließt sich nicht. Immerhin sollte doch davon ausgegangen werden, dass Bundestagsabgeordnete genug über eine Kandidatin wissen, bevor sie ihre eigene Meinung zu dieser Person öffentlich machen. Vielleicht ist das aber auch zu optimistisch gedacht.
Brosius-Gersdorf sprach sich in der Corona-Zeit dafür aus, dass Ungeimpfte weniger Rechte erhalten als Geimpfte.
Die Panik vor einer nicht kalkulierbaren Abstimmungssituation wird begleitet von dem demokratiefernen „Abweichler“-Vokabular. So werden all die Politiker bezeichnet, die sich nicht an die „Fraktionsdisziplin“ und die Vorgaben ihrer Führung halten wollen. Der einzelne Abgeordnete ist in diesem Sprachbild kein Individuum, sondern das Zirkustier, das lediglich auf die Kommandos seines Dompteurs, der Fraktionsspitze, hört. Dieser Zustand ist zwar bundesrepublikanische Tradition, demokratisch ist er nicht wirklich. Das im Grundgesetz verankerte Fundament der Abgeordnetenentscheidung ist deren Gewissen und nur deren Gewissen. Fraktionsdisziplin ist nicht vorgesehen. Die wahren Abweichler sind also eigentlich nicht die Politiker, die zu ihrem Gewissen stehen, sondern die mut- und gesichtslosen Fraktionsmitläufer.
Der Fraktionsaufstand der Unionsabgeordneten gegen Friedrich Merz und Jens Spahn sowie die Ablehnung von Brosius-Gersdorf waren kein Angriff auf die Demokratie, sondern eine erfrischende Abwechslung. Der vergangene Freitag war der demokratischste Tag der bisherigen Legislaturperiode.
Jens Spahn ergriff für Brosius-Gersdorf Partei.
Alle Hyperventilierer sollten begreifen: Wer in einer Demokratie bei jeder Niederlage das Ende der Demokratie heraufbeschwört, beschädigt wirklich die Demokratie. Wer glaubt, dass nur Wahlen stattfinden dürfen, bei denen vorher klar ist, dass die eigene Position oder Person gewinnt, hat die Demokratie nicht verstanden. Wer das konsensuale Hinterzimmer liebt und die konfrontative Abstimmung verachtet, hat Angst vor der Demokratie. Und wer bei jedem nicht-linken Vorgang einen hysterischen Weimar-Untergangs-Wutanfall erleidet, verwandelt den deutschen Bundestag in ein Zirkuszelt.
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