
Friedrich Merz verneint im Sommerinterview, dass überhaupt jemand über Bodentruppen in der Ukraine spräche, als Frau von der Leyen in Brüssel mit Überzeugung am Gegenteil arbeitet. Während die Bilder der großen West-Konferenz im Weißen Haus noch unsere Gedanken erfüllen, trifft sich die nicht-westliche Koalition in Shanghai, um über die Neuordnung der Welt zu beraten. Wenn Ihnen dieser Umstand eine Stirnfalte beschert, dann machen Sie sich die richtigen Gedanken – und sind bei der heutigen NIUS-Kolumne vollkommen richtig.
„Die Kunst des Krieges lehrt uns, nicht auf den Feind zu hoffen, der unseren Willen erfüllt.“ In meinem Bücherregal steht das bekannteste Werk des antiken Chinesen Sun Tzu, „Die Kunst des Krieges“, direkt neben Machiavellis „Der Fürst“ und Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“. Jene altehrwürdigen Klassiker genießen den Ruf, den versunkenen Schatz menschheitsgeschichtlicher Grunderfahrungen auch heute noch spürbar zu machen, allerdings auf einer Art Meta-Ebene, ganz so, als sei die Weisheit asiatischer oder alteuropäischer Autoren grundsätzlich genau dazu geeignet.
Und doch handelt es sich bei diesen Werken nicht um philosophische „Selbstbetrachtungen“ vom Kaliber eines Marcus Aurelius, auch nicht um solche, die sich auf die alltagstaugliche Seligkeit eines Glückskekses herunterbrechen ließen. Die Hauptwerke Sun Tzus und Niccolò Machiavellis sind überraschend kleinteilige Ratgeber; sie richten sich nicht an eine breite Masse (wie etwa die heutigen Bücher von Stefanie Stahl oder Jordan Peterson), sondern an eine kleine, aber radikal definierte Klientel: Militärbefehlshaber und Machthaber. Im Jahre 2025 sind diese Schriften gerade deshalb aktueller denn je.
Sun Wu, bekannt als Sun Tzu, war ein chinesischer General und Philosoph, dem das Werk „Die Kunst des Krieges“ zugeschrieben wird.
Zur Zeit des großen Sun Tzu war der Großteil der Heerführer Teil des Proto-Adels, ebenso, wie in Machiavellis Epoche der durchschnittliche Fürst nun einmal Sprössling einer einflussreichen Familie gewesen ist. Da der liebe Gott die Talente ungleich unter seinen Menschlein verteilt hat, durchlebte unter den Edlen weder der vorantike Chinese noch der Italiener der Renaissance eine Schule, die ihn auf die Widrigkeiten seiner späteren Aufgaben vorbereitet hätte, daher also die Notwendigkeit eines fachlichen Hinweises! Wer die vorbezeichneten Bücher nicht nur zitieren kann, sondern sogar gelesen hat, weiß: Sie sind, von ein paar existenziellen Betrachtungen einmal abgesehen, hauptsächlich voll von Anweisungen darüber, wie ein Wagen zu beladen oder ein Gremium zu besetzen ist. Den Entscheidern ihrer Zeit fehlte es nämlich nicht unbedingt an Weitblick und Tugend, wohl aber an simplen Erkenntnissen darüber, wie sie militärisch oder politisch ein bestimmtes Ziel umzusetzen hatten. Und so finden wir uns auf dem historischen Scheitelpunkt der parlamentarischen Demokratie wieder, indem die (womöglich) guten Absichten gewählter Politiker ihre Fähigkeiten und Kenntnisse bei weitem überstrahlen.
Machiavelli, Diplomat und Denker der Renaissance: Wie schon zu antiken Zeiten des Kriegsführers Sun Tzu, stammten die Heerführer meist aus einflussreichen Familien.
Vielleicht war es ein Entgegenkommen, dass eine Frau Zimmermann, ihres Zeichens Journalistin beim ZDF, dem Bundeskanzler durch die Verwendung zahlreicher Anglizismen beim sonntäglichen Interview gegenübergetreten war: „Outspoken“ sei er früher gegenüber der Altkanzlerin gewesen, nun gäbe es einen „Crash“ in seiner Koalition. Immerhin die Wortwahl wird dem Außenkanzler, der sich diesen Sommer vornehmlich im außer- und innerdeutschen Ausland aufhält, vertraut vorgekommen sein. Angesprochen auf den Krieg in der Ukraine jedoch bestand er darauf, dass derzeit niemand über Bodentruppen „vor Ort“ rede. Dem entgegen stehen jüngste Äußerungen der als Bundespräsidentin gehandelten EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, die gegenüber der Financial Times wiederum von einer „klaren Roadmap“ sprach, was die Planung einer europäischen Militärpräsenz in der Ukraine anbelangt. Wer die guten, alten Medien vollumfänglich verfolgt, der konnte in der jüngsten Lanz-Sendung Notiz davon nehmen, dass Kanzleramtsminister Thorsten Frei seinerseits von „Incentives“ sprach, wo es den Wehrdienst betrifft, und auch davon, dass es ausgerechnet die linken und liberalen zur Sendung geladenen Gäste waren, die auf die Makel des unlängst beschlossenen Wehrdienstgesetzes hinwiesen.
ZDF-Journalistin Zimmermann sprach den Kanzler im Interview mit Anglizismen an: Früher „outspoken“, nun „Crash“ in der Koalition.
Nun ist es in einer Republik allerdings so, dass uns Bürger vergleichsweise wenig interessiert, welche rhetorischen Purzelbäume die Politik in dieser Woche wieder einmal schlägt. Unsereinen interessiert weniger der Kleinkrieg einer Koalition oder eines Kanzlers, der sich im Sommerinterview mit unangenehmen Fragen herumschlagen musste, sondern vielmehr die Frage, ob der eigene Sohnemann – wie es Markus Lanz auf den Punkt brachte – in einer Kombination aus Wehrpflichtreform und Garantien demnächst in der Ukraine stationiert sein könnte. Und, gleichermaßen, wie es eigentlich möglich ist, dass der deutsche CDU-Kanzler und die deutsche EU-Präsidentin zeitgleich gegenteilige Pläne verlautbaren lassen, was eine irgendwie geartete Stationierung solcher Truppen anbelangt.
Wer einen Blick in die Bücher Sun Tzus oder Machiavellis riskiert, der kann sicher all dem etwas abgewinnen. Verständlich ist es, dass die EU sich – ausnahmsweise! – einmal auf eine Eventualität vorbereiten will, die möglicherweise eintreten könnte, auch dann, wenn eine russisch-ukrainische Einigung in den Sternen steht und noch gar nicht klar ist, ob der Kreml einem derartigen Arrangement überhaupt zustimmt. Optionen vorzubereiten, das gehört immerhin zum Handwerkszeug guten Regierens; eine Eigenschaft, welche die EU in den letzten Jahren und anderen Fragen sträflich vernachlässigt hatte. Ebenso ist der deutsche Kanzler in seiner zerbrechlichen Koalition grundsätzlich gut beraten, nicht allzu deutliche Ansagen zu machen und seinen sozialdemokratischen Juniorpartner schrittweise an Bord zu holen oder, so Gott will, zu halten. So weit, so gut.
Shanghai: Xi, Putin und weitere Verbündete loten eine multipolare Weltordnung aus.
Dem entgegengesetzt ist jedoch die nüchterne Realität der globalen Lage. Beinahe schon als bildlicher Gegensatz zur Konferenz in Washington aus der letzten Woche sowie dem für Donnerstag veranschlagten Treffen der Europäer in Paris stehen die derzeitigen Ereignisse in Shanghai. Dort begegnen sich, nicht zuletzt unter dem Eindruck der für Mittwoch anberaumten Militärparade anlässlich des achtzigsten Jahrestages des Sieges über das faschistische Japan, Vertreter Russlands, Chinas, Nordkoreas und Indiens. Sie loten derzeit aus, wie eine multipolare Weltordnung ohne westliche Hegemonie aussehen könnte.
Solches geschieht ausgerechnet in einem Geist, der die Aufrechterhaltung der Doktrin der sogenannten „Internationalen Beziehungen“ zum Angelpunkt der Überlegungen erklärt, während die Europäer, bestens veranschaulicht durch die Gebärden der Herren Macron und Merz, verzweifelt um ihre Bedeutung auf der weltweiten Bühne ringen. Und die Amerikaner sich in einer Phase der Konsolidierung befinden, die sogar einen möglichen Rückzug aus dem Pazifik einschließt. „Kenne deinen Feind und kenne dich selbst und du kannst hundert Schlachten schlagen ohne eine einzige Niederlage“, auch das schreibt Sun Tzu. Und: „Das oberste Prinzip ist, den Widerstand des Feindes zu brechen, ohne zu kämpfen.“
Die Herren Macron und Merz ringen verzweifelt um ihre Bedeutung auf der weltweiten Bühne.
Den aktuellen Machthabern in Peking, Moskau, Pjöngjang, Teheran und so weiter wollen wir nichts unterstellen, bekannt ist jedoch, dass Mao und Stalin – zumindest in geopolitischer Hinsicht dürften sie vordenkerische Relevanz entfalten – sich intensiv mit Sun Tzu und Clausewitz beschäftigt hatten. Die Art und Weise, mit der derzeit beide Mächte das eigentlich dem Westen nahestehende Indien umgarnen, erinnert technisch nicht nur an die alten Meister der internationalen Beziehungen und der Kriegsführung, sondern entblößt auch die von zunehmender Schwäche geplagten Europäer. Diese haben in irrtümlicher Selbstverständlichkeit die Diplomatie, Politologie und Ökonomie zu einer Weiterentwicklung der klassischen Geopolitik erklärt, statt sie als Addendum zu begreifen. Nun werden in dieser Woche ausgerechnet die Karten in Shanghai neu gemischt, während die westliche Öffentlichkeit sich nach wie vor dem Trugschluss hingibt, dass UN-Globalisierung und Verwestlichung zwangsläufig dasselbe bedeuten müssen. Schon jetzt ist absehbar, dass die nahende Konferenz in Paris in ihrer wahrnehmungsgestörten Realitätsferne nur an der Oberfläche ein Korrektiv zu dem sein kann, was längst zwischen den handlungswilligen Imperien des Ostens ausgemachte Sache ist.
Mao und Stalin auf einem Gemälde von D. Nalbandian um 1955 – strategische Denker im Geiste von Sun Tzu und Clausewitz
„Ich stelle mich innerlich darauf ein, dass dieser Krieg noch lange weitergeht“, so hat sich Friedrich Merz im ZDF-Interview geäußert. Während SPD-Generalsekretär Miersch „nichts ausschließen“ will und sich derzeit mit seinem CDU-Kollegen Spahn in der Ukraine aufhält, dürfte diese vom Bundeskanzler formulierte Einschätzung schmerzlich realistisch sein. Von einer Neuauflage der „Kunst des Krieges“ sind die in diffuser Vielfalt vereinten Europäer jedoch weit entfernt. Erst, wenn sie eigene Interessen abseits wohlfeiler Moral-Positionen formulieren können, besteht Hoffnung. Ein guter erster Rat bestünde darin, die Ereignisse in Shanghai ernster zu nehmen als jene in Brüssel.
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