
In etlichen Partei- und Ministerbüros von Stuttgart bis Hamburg dürfte die Rückzugsankündigung der Grünen-Jugend-Chefin Jette Nietzard mit Stoßseufzern der Erleichterung kommentiert worden sein – auch wenn man nach außen kaum etwas sagte. Die Berlinerin war schon nach ihrem Instagram-Auftritt mit ACAB-Pulli („All Cops Are Bastards“) parteiintern in Ungnade gefallen, weil ihre linksradikale Attitüde das sorgsam gepflegte Image grüner Gutbürgerlichkeit gefährdete. Dass sie nun in einem öffentlich-rechtlichen Podcast darüber fabulierte, ob im Falle einer AfD-Regierung der antifaschistische Kampf auch mit Waffen geführt werden müsste, war wohl endgültig zu viel.
Hätte Nietzard nicht so schnell reagiert und am Dienstagvormittag angekündigt, auf eine erneute Kandidatur als Bundessprecherin der Jugendorganisation zu verzichten, wäre der Druck aus dem Parteiestablishment auf sie wahrscheinlich enorm geworden. Denn für die Grünen, die auf ihrem langen Marsch durch die Institutionen an viel Macht und lukrative Posten gekommen sind, steht einiges auf dem Spiel.
In sieben Bundesländern ist der als „Anti-Parteien-Partei“ Anfang der 1980er Jahre gestartete parlamentarische Arm der damaligen Alternativbewegung derzeit an der Regierung beteiligt. In dreien dieser Länder koalieren die Grünen sogar mit ihrem einstigen Erbfeind: der CDU. Die christdemokratischen Ministerpräsidenten Daniel Günther in Schleswig-Holstein und Hendrik Wüst in Nordrhein-Westfalen werden nicht müde, ihre schwarz-grünen Bündnisse als Erfolgsmodell für den Bund anzupreisen.
In Baden-Württemberg, ihrem Kernland, stellen die Grünen sogar den Ministerpräsidenten – ihren ersten und bisher einzigen. Den Höhepunkt seiner Popularität hat Winfried Kretschmann allerdings längst überschritten. Nach seinem Wahlerfolg 2011 wurde er zur Galionsfigur des sogenannten Realo-Flügels, der den „realpolitischen“ Machterhalt wichtiger nimmt als den Erhalt der reinen ideologischen Lehre. Doch diese Rolle übernahm erst Robert Habeck und nach dessen Scheitern als Wirtschaftsminister blieb sie unbesetzt.
Nun dämmert manchen Wählern, gerade im Autoland Baden-Württemberg, dass die grünen Ideen vom großen Umbau der Industrie in einem volkswirtschaftlichen Desaster enden, egal ob sie von „Realos“ gemächlich oder von Ökofundamentalisten radikal umgesetzt werden. Und Kretschmann, der den Ministerpräsidentensessel 2026 eigentlich seinem Kronprinzen Cem Özdemir überlassen wollte, sieht die Felle davonschwimmen.
Als Jette Nietzard im Mai mit ihrem Anti-Polizei-Pulli um Social-Media-Aufmerksamkeit buhlte, sahen sich beide zu scharfen öffentlichen Distanzierungen herausgefordert. Kretschmann forderte die Grüne-Jugend-Chefin zum Parteiaustritt auf. „Ich verstehe überhaupt nicht, was die bei uns will“, sagte der 77-Jährige, der in Nietzards Alter als überzeugter Maoist dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands angehörte. „Sucht euch die richtige Partei aus und verlasst uns einfach. Wir sind nicht die richtige Adresse für die Art von Gesinnung, die ihr habt.“
Cem Özdemir äußerte sich ähnlich, nur etwas staatstragender formuliert: „Die Polizei verteidigt in höchstem persönlichen Einsatz jeden Tag die Werte, die uns als Partei ausmachen. Wer das nicht kapiert hat, ist bei uns falsch.“ Das Problem dieser permanenten Grenzüberschreitungen Einzelner sei, „dass der Eindruck entsteht, sie hätten irgendwas mit den Grünen zu tun.“
Es war der verzweifelte Versuch, die innere Zerrissenheit der Partei, zwischen Basis und Realo-Funktionären, zu leugnen. Denn natürlich haben Jette Nietzard und ihre linksradikalen Provokationen etwas mit den Grünen zu tun. Die Karriere eines ihrer größten Stars, Joschka Fischer, der in Frankfurt Polizisten verprügelte und dann als Außenminister im Maßanzug um die Welt jettete, zeugt davon.
Der Spagat zwischen Ökospießertum und Antifa-Folklore ist den Grünen lange gut gelungen. Hier die Verbürgerlichten, die über Mülltrennung wachen und sich gegenseitig gut dotierte Beamtenstellen zuschanzen, und dort die jüngeren, linkeren Grünen, die vom Straßenkampf träumen – mal fürs Klima, mal gegen die AfD. Doch der Fall Jette Nietzard zeigt: Der Spagat gelingt nicht mehr. Er zerreißt die Grünen.
Es sind die Folgeschmerzen der gescheiterten Ampelkoalition. Mit dem unter Robert Habeck vollendeten Atomausstieg haben die Grünen eines ihrer wichtigsten und identitätsstiftenden Ziele erreicht, merken aber jetzt, zumindest in Teilen, dass dies ein verhängnisvoller Fehler historischen Ausmaßes war. Denn ihr zweites Ziel, der Abschied von fossilen Brennstoffen im Namen des Klimaschutzes, wird dadurch unerreichbar. Eingestehen will sich das aber niemand.
So irren sie orientierungslos umher und klammern sich umso fester an ihrem letzten einigenden Ziel fest: eine Regierungsbeteiligung der AfD zu verhindern. Sie überziehen dabei völlig, malen die Rückkehr des Faschismus an die Wand, wittern überall rechte Verschwörungen und warnen vor einer Machtergreifung durch Alice Weidel und Björn Höcke. Grund dadür ist: Sie spüren selbst, dass sie die in Jahrzehnten eroberte Macht immer mehr verlieren. Es sind erbittert geführte Rückzugsgefechte.
In dieser Logik sind die Gedankenspiele, die Jette Nietzard im RBB-Podcast mit Jakob Augstein darüber angestellt hat, ob man im Ernstfall nicht zu den Waffen greifen sollte, eigentlich folgerichtig. Sie passen daher, anders als von Kretschmann und Özdemir behauptet, sehr gut zu dieser Partei. Mit demokratischer Mitte, wo sich die Grünen ja so gerne sehen, haben sie allerdings wenig zu tun.