
Heute vor 63 Jahren unterzeichnete das Kabinett Adenauer in Bad Godesberg das erste Gastarbeiter-Abkommen mit der Türkei. Den Jahrestag nutzte die Bundesregierung, um eine mittlerweile beliebte Geschichtslüge zu verbreiten: Ohne die türkischen Gastarbeiter hätte es kein deutsches Wirtschaftswunder gegeben, hieß es am Mittwoch in einem Videobeitrag der Bundesregierung.
Auch andere Vertreter der Ampel-Koalition fielen in der Vergangenheit mit ähnlich revisionistischen Äußerungen auf. So hatte die Integrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan (SPD) im Juli behauptet: „Gast- und Vertragsarbeiter*innen kamen in den 50er bis 70er Jahren nach Deutschland. Sie haben unser Land mit aufgebaut und stark gemacht.“ Zusätzlich ergänzte sie: „Sie waren das Rückgrat der Industrie.“
Das geschichtspolitische Vorgehen der Bundesregierung hat also Methode. Hier soll ein Mythos geschaffen werden. Je öfter die Lüge wiederholt wird, desto mehr Leute glauben auch den alternativen Fakten. Nach und nach sickert in der Bevölkerung der Gedanke ein, dass erst die türkischen Gastarbeiter das Wirtschaftswunder ermöglicht hätten. Tatsächlich jedoch könnte die Verdrehung der eigenen Geschichte kaum größer sein.
Zwar haben Gastarbeiter selbstverständlich zum Wohlstand des Landes beitragen. Der auf Instagram ausgesprochene Dank der Bundesregierung ist also durchaus berechtigt. Doch sie konnten nur nach Deutschland kommen, weil die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Industrie und Infrastruktur bereits wieder funktionsfähig gemacht hatten. Weil das Land schon wieder aufgebaut war, war es möglich, ausländische Arbeitnehmer in größerer Zahl zu beschäftigen.
Das sogenannte Wirtschaftswunder hatte bereits eingesetzt, als noch kein einziges Gastarbeiterabkommen unterschrieben war. Die gesamten 1950er-Jahre über gab es eine durchschnittliche Wachstumsrate von 8,2 Prozent. Das Jahr 1955 wurde zum wachstumsstärksten Jahr der deutschen Geschichte. Die Wirtschaft wuchs um 12,1 Prozent. Auch die Reallöhne stiegen um zehn Prozent, sodass der Konsum angekurbelt wurde und der Auto-Bestand sich um 19 Prozent vergrößerte. Das Land brummte. Schon Anfang der 1960er Jahre ging dieser Investitionsboom langsam zurück.
Genau im wachstumsstärksten Jahr 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, schloss die Bundesrepublik ein erstes Gastarbeiter-Abkommen mit Italien. 1956 kamen erstmals rund 12.000 italienische Arbeitskräfte nach Deutschland. In den Jahren danach folgten jeweils rund 20.000. Später kamen weitere Abkommen hinzu: mit Griechenland (1960), Spanien (1960), Türkei (1961), Marokko (1963), Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968).
Gastarbeiter kamen ab den 1960er Jahren in größerer Zahl nach Deutschland.
Von der reinen Zahl her, spielten die Gastarbeiter in der Arbeitswelt zu Beginn eine geringe Rolle. 1960 gab es etwa 26,2 Millionen Erwerbstätige in Westdeutschland. Von diesen stammten 280.000 Personen aus dem Ausland, wobei nicht alle Gastarbeiter waren. Das „Rückgrat der Industrie“, von dem etwa die SPD-Staatsministerin Reem Alabali-Radovan im Juli sprach, bildeten zu diesem Zeitpunkt deutsche Arbeiter. Bis 1973 wuchs die Zahl der ausländischen Beschäftigten auf 2,6 Millionen Personen.
Diese Fakten stellen keinesfalls die Lebensleistung vieler Gastarbeiter in Frage. Vielmehr diskreditiert die bewusste Geschichtsfälschung der Bundesregierung erst die geleistete Arbeit der Italiener, Spanier oder Türken. Denn zum Wohlstand des Landes haben viele hart arbeitende Männer, die häufig im Bergbau tätig waren, und ihre nachziehenden Familien natürlich beigetragen. Dennoch bleiben in der Nacherzählung der Gastarbeitergeschichte auch die negativen Aspekte meist außen vor.
Noch Anfang der 1980er Jahre urteilte der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) über die türkischen Gastarbeiter: „Nicht integrationsfähig und auch im Übrigen nicht integrationswillig.“ Später gab er bei einem Besuch der britischen Regierungschefin Margaret Thatcher zu Protokoll: Deutschland habe kein Problem mit den Portugiesen, den Italienern, selbst den Südostasiaten, weil diese Gemeinschaften sich gut integrierten. Aber die Türken kämen „aus einer sehr andersartigen Kultur“.
Derartige Aussagen sind heutzutage in der CDU undenkbar. Doch tatsächlich scheiterte in vielen Fällen gerade bei türkischen Gastarbeitern die Integration. Parallelgesellschaften gibt es in deutschen Großstädten schon seit den 1980er Jahren, nicht erst seit 2015.
Gegenüber der britischen Premierministerin Margaret Thatcher sprach Helmut Kohl von großen Problemen bei der Integration türkischer Gastarbeiter.
Zur Wahrheit rund um das Wirtschaftswunder gehört jedoch auch: Viele Deutsche lassen in ihrer Version der Geschichte häufig ebenfalls wichtige Details weg. Denn das Wirtschaftswunder basierte nicht nur auf der Arbeitsmoral der Deutschen, sondern auch auf dem Vorhandensein der notwendigen Gerätschaften. Anders als die Sowjetunion, die nach 1945 in ihrer Besatzungszone viele Betriebe demontieren ließ, gingen die US-amerikanischen Besatzer anders vor. Zwar kam es auch im Westen zum Abbau vieler Industrieanlagen, doch sie hatten lange nicht die wirtschaftliche Bedeutung wie im Osten. Ganz im Gegenteil: Die US-Amerikaner hielten es für wichtig, das westdeutsche Industriepotenzial zu nutzen, anstatt es zu zerstören, um den westdeutschen Pufferstaat im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion zu stärken.
Klar jedoch ist: Wer die Geschichte eines Volkes derart verdreht, wie die Bundesregierung es neuerdings beim Thema Gastarbeiter macht, der verfolgt damit bestimmte Ziele. Denn Geschichtspolitik ist immer der Versuch, die Kontrolle über die Vergangenheit zu erlangen, um so die Zukunft im Sinne der eigenen Politik zu gestalten. Und hier ist die Agenda der Bundesregierung klar.
Das stete Mantra der momentanen Regierungsvertreter lautet: Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft. Es brauche eine vermehrte „Fachkräftezuwanderung“, die aus wirtschaftlicher Perspektive überlebensnotwendig sei. Ohne die Hilfe von außen würden wir es nicht schaffen. Nach und nach sickert das in der Bevölkerung, ohne zu hinterfragen, ob die momentane Asyl-Einwanderung überhaupt sinnvoll ist. Genau deshalb ist es auch so zentral, den Geschichtslügen der Bundesregierung zu widersprechen.
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