
Der schönste, der wichtigste Satz des deutschen Grundgesetzes steht am Anfang. Darüber herrscht Einigkeit. Die Würde des Menschen, heißt es im ersten Artikel, sei „unantastbar“. Und weiter: Alle staatliche Gewalt müsse diese Würde achten und schützen. In der Tat kann es ohne Menschenwürde keine individuelle Freiheit geben und erst recht keinen Schutz vor einem übergriffigen Staat.
Sie bleibt aber eine Floskel, wenn der Bürger nicht zugleich das Recht hat, sich jederzeit freimütig zu äußern – ohne dass der Staat ihm nachstellt. Genau deshalb sind die Bestrebungen der Bundesregierung und vieler Landesregierungen, das freie Wort unter Vorbehalt zu stellen, katastrophal: Zensur streicht die Errungenschaften der Aufklärung durch, versündigt sich am Grundgesetz und macht den Bürger zum Untertanen.
Schleichend beginnt das bisher Undenkbare Realität zu werden. Die „Ampel“ will dem betreuten Denken das überwachte Sprechen zur Seite stellen – und nicht nur sie. Die Regierungen von Baden-Württemberg und Bayern beteiligen sich gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium an einer Meldestelle namens „REspect“, die von der Bundesregierung zum ersten „Trusted Flagger“ ernannt wurde, zum „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“. Die Meldestelle soll bei digitalen Plattformen erreichen, dass auch „Hass und Fake News“ sehr schnell und „ohne bürokratische Hürde“ gelöscht werden.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Familienministerin Lisa Paus, beide Mitglieder der Grünen Partei, sind beide an „REspect“ beteiligt.
Der Staat maßt sich also das Recht an, über die Grenzen der Meinungsfreiheit zu entscheiden. Federführend ist die von dem grünen Funktionär Klaus Müller geleitete Bundesnetzagentur, die zugleich als „Digital Services Coordinator“ (DSC) der Bundesregierung firmiert. Der DSC ist die „zentrale Plattformaufsicht für Deutschland“. Er „überwacht, dass … die User sicher und frei im Netz unterwegs sein können.“
Wann immer ein Staat etwas überwachen will, ist Vorsicht geboten. Er hat das Recht, einen Rahmen zu setzen für fairen Wettbewerb. Er darf die Grenzen der Freiheit dort ziehen, wo die Freiheit des anderen berührt und etwa die körperliche Unversehrtheit angegriffen wird. Der Rechtsstaat darf aber keineswegs tun, was unter dem Stichwort eines vermeintlichen Kampfes gegen „Hass und Hetze“ derzeit voranschreitet: Meinungen löschen lassen, die ihm nicht genehm sind. Nur wer Angst vor der Wahrheit hat, braucht die Zensur. Und wer den Machtverlust fürchtet, errichtet Meldestellen.Meinungs- und Pressefreiheit sind keineswegs eine hübsche Zutat zur Menschenwürde, auf die im Zweifel nur jene angewiesen sind, die professionell von ihr Gebrauch machen, Journalisten, Autoren, Künstler, Politiker. Nein! Ebenso zentral wie der erste ist der fünfte Artikel des Grundgesetzes: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Das Recht, seine Meinung zu verbreiten, hat „jeder“.
Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert die freie Meinungsäußerung. „Eine Zensur findet nicht statt.“ heißt es dort.
Weder muss es sich um eine bestimmte Meinung noch um einen bestimmten Sprecher handeln. Alle dürfen prinzipiell öffentlich sagen, was sie sagen wollen. Die Äußerung muss weder sachlich noch angemessen, ja nicht einmal wahr sein. Der große Aufklärer Immanuel Kant, auf den zu berufen Olaf Scholz sich einmal traute, wusste noch: Das „angeborene Recht“, schrieb Kant, „ist nur ein einziges“, nämlich die Freiheit. Untrennbar zur Freiheit gehört das Recht, seine Gedanken anderen mitzuteilen, „ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig, oder unwahr und unaufrichtig“.
Portrait des Philosophen Immanuel Kant
Kant ging von mündigen Bürgern aus, die selbst verantwortlich dafür sind, „ob sie glauben wollen oder nicht“. Der Freiheit der Äußerung entspricht der Freiheit, sich von der Äußerung überzeugen zu lassen. Heute geht die „Ampel“ vom unmündigen Untertanen aus. Ihm sollen im Zweifel nur solche Wahrheiten zugemutet werden, die den staatlichen Test bestanden haben. Deutlicher kann man nicht hinter die Aufklärung zurückfallen.
Als Olaf Scholz im April dieses Jahres an Kant erinnerte, rühmte er in einem Halbsatz auch die „liberale und frei debattierende Öffentlichkeit“. Hauptsächlich aber bediente er sich bei dem Philosophen, um die militärische Unterstützung der Ukraine zu rechtfertigen. Die Leerstelle war und ist bezeichnend.
Bundeskanzler Scholz leitet konzentriert die wöchentliche Kabinettssitzung im Bundeskanzleramt.
Dem Bundeskanzler fällt zur zentralen Bedeutung der Meinungsfreiheit wenig ein. Spricht er doch einmal von ihr, wird es komödiantisch: „Autoritäre Regime“, sagte Scholz im Mai 2023, „fürchten Worte, die gegen ihre Propaganda stehen – deshalb bekämpfen sie sie mit allen Mitteln.“ Seine „Ampel“ aber will die Bundesrepublik zu einem Land der Meldestellen machen, in dem regierungsnahe Sozialpädagogen die guten Meinungen ins Töpfchen werfen und die schlechten ins Kröpfchen.
Wer mit Kant nichts anzufangen weiß, der hat zu John Stuart Mill nichts zu sagen, muss bei Barack Obama weghören und wird von Mr. Bean beschämt. Mill nämlich, der größte Theoretiker der Meinungsfreiheit, schrieb 1859: „Wir können nie sicher sein, ob die Meinung, die wir unterdrücken wollen, eine falsche Meinung ist; und selbst wenn wir sicher wären, würde ihre Unterdrückung dennoch ein Übel darstellen.“ Auch die falsche Meinung könne ein Gran Wahrheit enthalten, schlichtweg „jede Unterbindung einer Erörterung“ sei eine „Anmaßung von Unfehlbarkeit.“ Ist es ein Wunder, dass der in seiner Ergriffenheit von sich selbst verpanzerte Scholz keine Meinung erträgt, die ihm missfällt?
John Stuart Mill, britischer Philosoph und Ökonom.
Bei Mill wuchs eine Gesellschaft nur im permanenten Austausch von Rede und Gegenrede. Er war wie Kant von der Einsichtsfähigkeit eines jeden Menschen durchdrungen. Mill wusste: In einer freien Gesellschaft darf es nie eine Diktatur der Mehrheitsmeinung geben.
Jede, wirklich jede vom Mainstream abweichende Meinung ist darum ein Geschenk an die Republik der Gleichen – und gerade nicht deren Bedrohung. Heute kämpfen Mimosen und Ich-Könige im Ministerrang mit der Peitsche der Zensur gegen das allzu freie Wort.
Barack Obama war klüger: „Die stärkste Waffe gegen Hassreden“, sagte der damalige US-Präsident vor zwölf Jahren, sei „nicht Repression, sondern mehr Redefreiheit.“ Rowan Atkinson, der Darsteller des Mr. Bean, zitierte Obama wenig später in einer fulminanten Verteidigung der Meinungsfreiheit und ergänzte: „Wenn wir eine robuste Gesellschaft wollen, brauchen wir einen robusteren Dialog, und dazu muss das Recht gehören, zu beleidigen oder zu kränken.“ Wenn man die Widerstandskraft der Gesellschaft gegen beleidigende oder anstößige Äußerungen erhöhen wolle, sei es „der beste Weg, viel mehr davon zuzulassen“.
Das britische Multitalent Rowan Atkinson besucht eine Premiere in London.
Diese Sätze klingen wie aus einer fernen Galaxie, die das Raumschiff Bundesrepublik noch nie erreichte. Hierzulande trifft eine verängstigte Gesellschaft auf eine Regierung im Machtrausch. Die Freiheit droht zwischen diesen Polen zerrieben zu werden. Wem sie am Herzen liegt, der muss unverdrossen von der Meinungsfreiheit Gebrauch machen – und zwar gerade dann, wenn es der Regierung bitter aufstößt. Ein größerer Dienst an Gesellschaft und Land ist kaum denkbar. „Kommt“, heißt es bei Gottfried Benn, „kommt, öffnet doch die Lippen – wer redet, ist nicht tot.“