
140 Seiten Koalitionsvertrag haben CDU, CSU und SPD im Frühjahr produziert. Viele Tändeleien finden sich darin, kraftvolle und klare Worte zum Bürgergeld und anderen Sozialleistungen sucht man vergebens. Viel ist die Rede von „Umgestaltung“, etwa des Bürgergelds in eine „neue Grundsicherung für Arbeitssuchende“. Soziale Leistungen seien oft „unzureichend aufeinander abgestimmt“, auch das wird beklagt und soll repariert werden. Aber am Ende schlägt ein Satz alle anderen: „Das soziale Schutzniveau wollen wir bewahren.“
Das dürfte der Kernsatz aus dem Koalitionsvertrag sein, der alle Schritte in der kommenden Reform des Sozialstaats lenkt. Er bedeutet offenbar: Das Niveau darf nicht sinken. In dem Fall können offenbar auch die Ausgaben nicht wirklich und strukturell sinken, was wiederum alle Unionspolitiker ad absurdum führt, die meinen oder suggerieren, dass diese Koalition angetreten sei, um einen überbordenden Sozialstaat zurückzuschneiden. Knapp ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts (30,5 %) wird inzwischen für Sozialleistungen aller Art ausgegeben. Da wäre ein bisschen Ordnung im Laden ja gar nicht schlecht.
Bas leitet die Arbeit ihrer Kommission mit eindeutigen Worten ein: „Wir haben einen starken Sozialstaat. Wir müssen es jedoch schaffen, den Sozialstaat und die Sozialverwaltung vor Ort bürgerfreundlicher, wirksamer und effizienter zu gestalten.“ Das soziale Schutzniveau müsse bewahrt werden. Es soll also, in einfachen Worten, leichter werden, Anträge auf Sozialleistungen zu stellen. Ob mit „effizienter“ indes „treffsicherer“ (also sparsamer) gemeint ist, weiß kein Mensch. Zu befürchten ist, dass es eher „umsorgender“ (also teurer) heißt.
Angedacht ist eine zentrale Online-Plattform, die Leistungsvergabe soll also digitalisiert und zentralisiert werden. Allein das könnte einen Machtzuwachs für Bärbel Bas bringen. Daneben soll es auch praktischer für die Antragsteller werden, die ihre Daten nur noch einmal eintippen müssen. Laut Bild sollen zudem Wohngeld, Kinderzuschlag und das heutige Bürgergeld zusammengeführt werden. Bisher mussten die Leistungsempfänger dieselben anstrengenderweise bei verschiedenen Stellen beantragen, „mit unterschiedlichen Formularen und Berechnungen“ – ein Graus für jeden effizienten Sozialstaat. Man könnte auch sagen, der Sozialstaat soll für den illiteraten, analphabetischen Teil der Bevölkerung zugänglicher werden.
Insolventer Sozialstaat? Auf keinen Fall. Diese Zitrone scheint noch viel Saft zu haben. Die Frage ist für Bas eher, wie man möglichst viele daran teilhaben lässt. Und danach wenden wir uns dann wieder dem Fachkräftemangel zu, mit der bekannten Losung: Die Zuwanderung soll es regeln.
Allenfalls flankierend sollen die vereinten Politiker aller Staatsebenen in „Fachgesprächen“ auf Sozialpartner, Wirtschafts- und Sozialverbände, den Bundesrechnungshof und „weitere Stakeholder aus Wissenschaft und Praxis“ treffen und sie befragen, so das Arbeitsministerium. Die Experten und vielleicht sogar unparteiischen Fachleute dürfen ganz am Ende des Katzentisches Platz nehmen. Der Schwerpunkt liegt wiederum auf den „Sozialpartnern“ und „Sozialverbänden“, sozusagen dem Deep State des deutschen Sozialstaats. Wer, wenn nicht sie, wird um jede einzelne Leistung kämpfen, die doch stets einer bestimmten Klientel zugutekommt. Man macht also den Bock zum Gärtner, was freilich dort beginnt, wo man amtsführende Politiker über die Wohltaten fürs Volk entscheiden lässt. Und hier passt wieder der Leitspruch der Koalition: Das Schutzniveau darf nicht sinken.
Das steht im bleibenden Gegensatz zu Klagen von Unions-Granden, die meinen, Deutschland bringe „Leistungen auf, wie es kein anderes Land der Erde tut“ (Kanzleramtschef Thorsten Frei). Und überhaupt: Es müsse doch endlich dafür gesorgt werden, dass jeder Arbeit annehmen muss, der arbeiten kann (Bayernchef Markus Söder). Aber wenn es nach SPD-Bas geht, dann soll sich an beidem offenbar nichts ändern.
Oder, um es noch einmal mit der unnachahmlichen Bärbel Bas zu sagen: „Wer in Not gerät, muss sich auf den Sozialstaat verlassen können, ohne Wenn und Aber. Die staatliche Unterstützung muss unbürokratisch und schnell erfolgen. Die Kommission zur Sozialstaatsreform soll dazu einen Beitrag leisten.“ Aber ist eigentlich jeder in Not, der bisher staatliche Leistungen bezieht und also das geltende Schutzniveau in Anspruch nimmt? Dieser Frage weichen SPD wie Union in der aktuellen Diskussion noch aus.