
Die Realität: Israel kämpft ums Überleben. Der Iran – erklärtermaßen auf die Vernichtung Israels aus – unterstützt mit Hisbollah, Huthis und anderen Milizen eine Strategie permanenter Gefährdung. Der 7. Oktober hat gezeigt, dass diese Drohungen längst in mörderische Realität umgeschlagen sind. Dass große Teile der Bundesregierung, statt klar an der Seite Israels zu stehen, sogar „Zurückhaltung“ oder gar Kritik für opportun halten, ist Ausdruck einer gefährlichen Bereitschaft, vor der antiisraelischen Lobby einzuknicken.
Bezeichnend ist die Haltung von Außenminister Johann Wadephul (CDU), der Israel Ende Mai belehrte, Deutschland nicht unter „Druck“ zu setzen. Die Rede war von „Zwangssolidarität“ – ein absurder Begriff, denn „Solidarität“ leitet sich, wie Hans Magnus Enzensberger treffend formulierte, von „solidus“ her, „einem Wort, das (…) haltbar, zuverlässig, gut fundiert bedeutet“. Solidarität ist entweder freiwillig oder sie ist keine. Doch Wadephul sprach nicht nur über Rhetorik. Er brachte sogar die Möglichkeit ins Spiel, Waffenlieferungen an Israel zu beenden – an ein Land, das von allen Seiten angegriffen wird.
Einen noch schwereren Bruch vollzog Bundeskanzler Friedrich Merz in einer Rede bei der Republica. Auf dem WDR-Europaforum des Kongresses erklärte er: „Was die israelische Armee im Gazastreifen macht, ich verstehe ehrlich gesagt nicht mehr, mit welchem Ziel.“ Der Angriff auf eine Schule sei „eine menschliche Tragödie“, die sich nicht mehr mit dem Kampf gegen die Hamas rechtfertigen lasse.
„Der Verrat an Israel wird besonders deutlich im Vergleich mit Merz’ früheren Positionen.“
Was wie Mitgefühl klingt, ist in Wahrheit eine fundamentale Infragestellung israelischer Selbstverteidigung. Merz bestätigt damit indirekt das Narrativ antiisraelischer Aktivisten: dass Israel in Gaza keine legitimen Ziele verfolge, sondern einen inhumanen Vernichtungsfeldzug führe. Zudem bedient er – wohl unbeabsichtigt, aber nicht folgenlos – ein antisemitisches Bild, das Juden als Kindermörder diffamiert. In der Geschichte hat solche Rhetorik immer wieder den Boden für Gewalt bereitet.
Der Verrat an Israel wird besonders deutlich im Vergleich mit Merz’ früheren Positionen: Als Oppositionsführer nannte er den Haftbefehl des IStGH gegen Netanyahu einen Skandal, lud den israelischen Premier noch im Februar, wenige Tage vor der Bundestagswahl, nach Berlin ein und kritisierte die Ampel scharf für deren Zögern bei Waffenlieferungen. Heute wird in Regierungskreisen geflüstert, Netanjahu werde in Berlin niemals willkommen geheißen.
Was ist geschehen? Die Antwort ist politisch – und opportunistisch. Merz hat offenbar entschieden, dass es bequemer ist, Israels Gegner zufriedenzustellen, als sich gegen die wachsende antiisraelische Stimmung zu stemmen – eine Stimmung, die von Universitäten über Kulturinstitutionen bis in die eigene Koalition reicht. Harmonie in der Koalition, so scheint es, ist ihm wichtiger als Haltung – wohl auch aus der Überlegung heraus, dass die alte Ampel an zu viel internem Streit gescheitert sei?
Der Kurswechsel fällt zudem nicht zufällig mit Merz’ Avancen gegenüber der EU zusammen. Die taz nannte ihn jüngst einen „Wanna-be-‚Außenkanzler‘“ – in einem Kommentar, der zwar außerordentlich israelfeindlich war, aber in der Analyse zu Merz wohl nicht ganz falsch lag. Merz sucht europäische Anerkennung – und die findet sich derzeit bei jenen Staaten, die offen mit Sanktionen gegen Israel drohen: Frankreich, Spanien, Großbritannien. Die EU droht zu einem antiisraelischen Klub zu werden – wer sich dort profilieren will, muss Distanz zu Jerusalem zeigen. Dementsprechend versucht Merz, sich auch von den wenigen klaren Israel-Unterstützern in Europa abzugrenzen – etwa von Viktor Orbán, der zwar das antisemitische IStGH-Urteil scharf kritisierte, aber für Brüssel als Paria gilt. Merz will dazugehören – und dafür opfert er Prinzipien.
Auch innenpolitisch hofft er auf Applaus: Merz buhlt um junge Wähler, orientiert sich womöglich am Erfolg der Linkspartei und ihrer Antiisraelrhetorik, die, bestimmte, jüngere urbane Mittelschichten anzusprechen scheint. Dort aber ist die Israelkritik längst zum Ausweis moralischer Selbstüberhöhung geworden – oft verbunden mit einem enthemmten Antisemitismus, der sich hinter antikolonialen Floskeln versteckt.
„Ein Deutschland, das sich von Israel abwendet, verliert nicht nur einen Bündnispartner. Es verliert sich selbst.“
Doch dieser politische Opportunismus hat einen Preis – und der ist hoch. Denn während Merz Israel offen rügt, bricht in Deutschland der Antisemitismus alle Dämme. Der Bundesverband der RIAS-Meldestellen verzeichnet für 2024 über 8600 antisemitische Vorfälle – ein Anstieg von 77 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Darunter waren auch versuchte Tötungsdelikte. Jüdisches Leben findet zunehmend unter Polizeischutz oder gar im Verborgenen statt. Wer in dieser Situation Israel diskreditiert, liefert Antisemiten weitere Munition – moralisch und politisch. Besonders zynisch wirkt das Verhalten der Bundesregierung angesichts des symbolischen Datums: Im April 2025 wurde der 60. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel begangen. Auf der Website des Auswärtigen Amts hieß es dazu: „Die Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels, seiner Bürger und des jüdischen Volkes ist und bleibt ein Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik.“ Wenige Wochen später zeigt sich: Es war nichts als Sonntagsrhetorik.
Auch das große Versprechen Angela Merkels in der Knesset 2008 – Israels Sicherheit sei „Teil der deutschen Staatsräson“ – wirkt heute hohl. Denn gerade jetzt, da Israel jeden Verbündeten braucht, will sich Deutschland an seine Versprechen nicht mehr gebunden fühlen.
Der Bruch mit dieser Staatsräson ist nicht nur ein außenpolitisches Versagen. Er ist ein moralischer Offenbarungseid. Und er wird Folgen haben. Denn ein Deutschland, das sich von Israel abwendet, verliert nicht nur einen Bündnispartner. Es verliert sich selbst. Es verliert das Fundament seiner Nachkriegsethik. Und es signalisiert: Antisemitismus hat wieder Platz – auf der Straße, in der Universität, und nun auch bis tief in die Regierungskoalition hinein. Ein Deutschland aber, das den Antisemitismus nicht bekämpft, sondern durch sein Verhalten indirekt ermutigt, untergräbt seine eigene demokratische Legitimität – und gefährdet damit nicht nur Juden, sondern die Grundlagen des liberalen Westens.