
Am Dienstagabend ging der Link zur Facebook-Seite des CDU-Stadtverbands Ostseebad Kühlungsborn in den WhatsApp-Gruppen der Union geradezu durch die Decke. Kurz nach 22 Uhr hatte er sich von Mecklenburg-Vorpommern über Nordrhein-Westfalen bis zur CSU nach Bayern verbreitet.
Die Chat-Gruppen der Union gleichen in diesen Tagen ohnehin einem überreizten Nervennetz, in dem Verzweiflung, Fatalismus und vereinzelte Versuche der Beruhigung die Runde machen. Doch dass ein ganzer Stadtverband hinschmeißt, formvollendet auf dem eigenen Briefpapier, das ist trotzdem etwas anderes. Eine Art Paukenschlag im Trommelwirbel der Erregung.
In diesem Brief erklären die CDU Mitglieder ihre Beweggründe für den Austritt.
„Jeder von uns ist aus bestimmten Überzeugungen und Grundwerten in die CDU eingetreten“, schreiben die Ex-Parteifreunde. „Wenn jedoch grundlegende Punkte und rote Linien überschritten werden, die diese Werte zerstören, muss man zwangsläufig Konsequenzen ziehen. Dies tun wir hiermit und treten aus der Christlich-Demokratischen Union mit sofortiger Wirkung aus.“ Worte, die genau den Nerv vieler an der Unionsbasis treffen. In der Migrationskrise 2015/2016 war die Stimmung ähnlich geladen, in diesen Tagen kommt Resignation hinzu.
Der Frust sitzt tiefer, ist intensiver, „weil man bei Merz wirklich was anderes gedacht und erwartet hat“, schreibt einer aus der Nordrhein-Westfalen. „Bei Merkel war man irgendwann einfach nur lethargisch, aber bei Merz ist das was anderes: Man ist enttäuscht. Das fühlt sich an, als hätte einen die Freundin verraten. Das ist richtig emotional. Das spüren viele.“
Friedrich Merz verkündete im Wahlkampf vollmundig was er als Kanzler alles umsetzen würde. Viele Unions-Wähler sind bereits enttäuscht über die gebrochenen Versprechen.
CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat mit seinem Wahlkampf für den „Politikwechsel“ nicht nur die Wähler draußen im Lande getäuscht, sondern – und das ist vielleicht noch schlimmer – seine eigenen Unterstützer, die ihn nach den Merkel-Jahren im Mitgliedervotum zum Parteichef gemacht hatten. Gegen den Willen des Establishments. Er verkörperte für sie den Bruch mit der Merkel-Zeit und vor allem mit der Methode Merkel, unter Führung der Union SPD-Politik zu machen. Sie hatten ihm geglaubt, dass er die Partei zu den bürgerlich-konservativ-liberalen Wurzeln zurückführen würde. Ein Vertrauen, das nach den ersten Merz-Monaten als CDU-Chef mit der Einführung der Frauenquote auf dem Parteitag in Hannover erste Risse bekommen hatte, durch glaubwürdige Leute wie Generalsekretär Carsten Linnemann aber immer wieder beruhigt wurde.
Diesmal ist die Situation dramatischer und die Verzweiflung ist tiefer. Endzeitstimmung: „Wir waren mal die Nummer 1. Wenn wir mit diesen Verhandlungsergebnissen aus den Koalitionsgesprächen kommen, können wir nach Hause gehen und zusehen, wie uns die AfD überholt. Und zwar zu Recht! Wer Wechsel verspricht und SPD-Suppe serviert, bekommt die Rechnung!“
Der ansonsten bisher nicht weiter auffällige Stadtverband Kühlungsborn ist in diesem Umfeld ein Fanal. Ein Alarmsignal, dessen Wirkung man im Konrad-Adenauer-Haus noch längst nicht verstanden hat, sagt ein CDU-Mann aus Sachsen. Dass es noch so vergleichsweise still in der Partei ist, liegt einzig und allein daran, dass eine Revolte gegen Merz, den eigenen Wunschkandidaten und Hoffnungsträger träfe. Den Letzten, auf den viele noch gesetzt und dem sie im Wahlkampf geglaubt haben. Danach wird es düster.
„Schmeißt dem Klingbeil die Sachen vor die Füße und sagt ihm: ‚Wenn du dieses Land vor die Wand fahren willst, bitte. Aber nicht mit uns‘“, schreibt einer. Aber so ticken die in der Spitze ja nicht. Der Abbruch würde Chaos nach sich ziehen und neue Kurs- und Personaldebatten, von denen sich in der Union auch niemand etwas erwartet – außer sinkende Umfragewerte oder gar Abrutschen hinter die AfD bei möglichen Neuwahlen. Sämtliche Szenarien verheißen nichts Gutes, und die aktuellen Ereignisse liefern täglich neues Feuer unter dem Hüttendach: „Wir lassen uns beschimpfen, wir lassen es zu, dass die Vorfeldorganisationen der Grünen unsere Leute bedrohen, wie jetzt in Bayern, aber am Ende sagen wir den Grünen: ‚Liebt uns!‘, obwohl sie uns verachten, gerade weil wir so weich sind und ihnen auch noch 100 Milliarden Euro aus dem Schuldenpaket nachwerfen.“
Auch viele CDU Mitglieder wünschen sich ein entschiedeneres Auftreten von Merz gegenüber Klingbeil.
Während sie in Berlin rote und blaue Textpassagen in eckigen Klammern für die Koalitionspapiere formulieren, verlieren CDU-Leute an der Basis die Geduld. Die lange unter Angela Merkel geübte Praxis des Krötenschluckens fürs Regieren zieht nicht mehr, wird nicht mehr akzeptiert. Dafür sei die Lage zu ernst. „Wenn wir jetzt nicht die Asylwende hinbekommen, dann wird es dieses Land in 25 Jahren so nicht mehr geben. Das ist keine Diskussion darüber, ob man die Einkommenssteuer um 0,5 Prozent senkt oder Schottervorgärten erlaubt oder ob es einen Veggietag gibt. Es geht darum: Bleiben wir weiter Westen oder docken wir an die Arabische Liga an.“
Je nachdem, wie konservativ die jeweiligen Chat-Gruppen sind, ranken sich die Debatten über mögliche Auswege. Sebastian Kurz aus Österreich wird da als Vorbild genannt, andere sehen das rabiate Vorgehen von Donald Trump als eine Blaupause für die Rückgewinnung bürgerlicher Deutungshoheit. „Wer mal ins Land reinschaut, wo in Strafverfahren mittlerweile gefühlt 70 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund Täter sind, beim Sozialamt, wo immer mehr arabische Familien mit 10 Kindern vorstellig werden, wo die Parkplätze der Hinterhofmoschee platzen. DAS treibt die Leute um und da muss was passieren. Das ist keine Kosmetik, sondern es geht darum: Gibt es Deutschland noch 2045 oder sind wir dann Deutschlallah.“
Führen diese Aufwallungen nun tatsächlich zum Aufstand gegen Merz? Bislang eher nicht. Noch wird von der Parteispitze und den mehr als einhundert Unionsleuten, die an den Verhandlungen beteiligt sind, die Parole ausgegeben: Abwarten, was am Ende rauskommt. Die Hoffnung: Einen große Portion Union pur bei Migration oder Wirtschaft. Etwas, dass man unter Schmerzen als Hoffnung und wichtige Kehrtwende für Deutschland verkaufen kann. Die Chancen stehen nicht gut. Statt Steuersenkungen für die Konjunktur, wollen die Sozialdemokraten Steuererhöhungen und dort, wo bislang linke Vorfeldorganisationen zumindest pro forma politisch neutral sein mussten, soll nach dem Willen der SPD offen Parteipolitik gemacht werden dürfen.
Mit anderen Worten: Die Wahlverlierer von der SPD fahren Attacke im Angriff, und die Union kämpft verzweifelt um Abwehr. Die kommenden Nächte werden in den Chat-Gruppen vermutlich nicht gemütlicher.
Lesen Sie auch: