
Kein guter Abend für die SPD. Kein guter Abend für Anke Rehlinger, die Vize-Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie. Mit Dampfplauderei und Partei-Parolen, mit zelebrierter Betroffenheit und zur Schau gestelltem Problembewusstsein mag man es zur Ministerpräsidentin des Saarlands und Präsidentin des Bundesrats bringen, aber 75 Minuten Lanz sind eine andere Nummer. Und das, obwohl der Moderator seine Sendung bereits seit Jahren fest im linken Milieu verankert hat. Da dürfte einer linken Sozialdemokratin eigentlich keine Gefahr drohen. Sollte man meinen. Meinte Rehlinger wohl auch selbst.
Doch es bedarf nur eines Gasts wie Ferdinand von Schierach, um eine ganze Partei als das zu entblößen, was sie ist: ein Schatten ihrer selbst. Zunächst kritisiert er die SPD-Co-Chefin Bärbel Bas für ihre „grässliche Wortwahl“. Diese hatte die jüngsten Vorschläge des Koalitionspartners CDU als „Bullshit“ bezeichnet. Doch es kommt noch dicker. Von Schierach konstatiert, dass die SPD seit zehn Jahren „Politik für eine Klientel macht, die sie nicht wählt“, nämlich Bürgergeldempfänger. Das sei zwar ehrenhaft, aber „die Leute, die die SPD wählen, wandern ab“. Von Schierach prophezeit düstere Zeiten: „Wenn die SPD nicht aufpasst, ist sie unter zehn Prozent irgendwann.“ Die Partei glaube immer noch, das gerade „die 50er oder 60er Jahre sind“, agiere also völlig realitätsfern. „Die Menschen in Deutschland haben bei der letzten Wahl überwiegend Konservative gewählt und bekommen jetzt dauernd Regierungen, die mehr oder weniger nicht konservativ agieren“, sagt von Schierach. „Und das wird der SPD schaden, denn jeder macht die SPD dafür verantwortlich.
Dass er diese Kritik eigentlich eher an die CDU richten müsste, fällt keinem in der Runde auf. Und dass etwa das Bürgergeld mehrheitlich an Menschen ausgezahlt wird, die gar keine deutschen Bürger sind, kommt auch nicht aufs Tableau. Man merkt sehr deutlich, dass hier mal wieder lauter Leute im Studio sitzen, deren persönliches Umfeld vom Migrantenstrom verschont geblieben ist.
Von Schierach und auch die Journalistin Kerstin Münstermann (Rheinische Post) haben sich die SPD auserkoren, um sie zum Generalsündenbock zu machen. Rehlinger muss es ausbaden. Sie bekommt den Eiseshauch zu spüren, der durch das Studio wabert: Das hat man also davon, wenn man als unaufhaltsam dahin schrumpfende Splitterpartei den größeren Koalitionspartner dauernd vor sich hertreibt, statt konstruktiv zu arbeiten.
Rehlinger selbst versucht es mit demonstrativer Konstruktivität, aber das will ihr so recht niemand abnehmen. Dafür reagiert sie zu patzig auf jegliche Kritik: „Frau Münstermann, es wäre total spannend, mal zu erfahren, was denn eigentlich gewollt ist“, blafft sie die Journalistin an. „Was denn genau?“ Und um zu beweisen, wie ernst es ihr mit dem Sparen und mit Reformen ist, wirft sie ein paar Stichworte ein, ohne sich jedoch in irgendwelchen Details zu verlieren. Man müsse im Gesundheitssystem Doppeluntersuchungen prüfen, sagt sie etwa. Oder schauen, ob es wirklich 94 Krankenkassen braucht. Aber es dürfe „nicht immer nur Kürzungen“ geben, sondern es gehe „um die Effektivität des Systems“. Konkrete Vorschläge fordert sie unterdessen immer nur von der CDU. „Ich würde das gern diskutieren“. Womit klar ist, worum es ihr eigentlich geht: Diskutieren um des Diskutierens Willen.
Eine Vollblutpolitikerin. Jedes Heißluftgebläse wäre neidisch auf diese Leistung.
Auch Rehlinger kann nicht anders, als den Koalitionspartner zu verunglimpfen. Markus Söder etwa, der am Vorabend bei Lanz mal wieder die Regionalisierung der Vermögensteuer gefordert hatte, um einen Steuerwettbewerb zwischen den 16 deutschen Bundesländern zu ermöglichen. Rehlinger findet das lächerlich. Man brauche eher eine „europäische Steuerpolitik“ und „keine Kleinstaaterei“. Was Söder sagt, sei nur „das übliche Getöse“.
Sie fordert stattdessen „Wirtschaftsimpulse“, ohne auch hier irgendwie konkret zu werden. Wer ihr zuhört, merkt schnell, welches Mantra sie vertritt. Sie sieht es als ihren Job an, Probleme zu besprechen, statt zu bearbeiten. Nicht die Lösung ist das Ziel, sondern die Debatte darüber. Wie kann man etwas erreichen oder eben auch nicht, egal. Aber gut, dass wir darüber gesprochen haben.
Wirtschaftsimpulse sind für Lanz kein Rezept. „Das klappt nicht so kurzfristig“, sagt er. „Sie brauchen jetzt die Knete“. Aber noch immer kommt von Rehlinger nichts Greifbares.
Von Schierach hingegen pflegt, wie es seine Art ist, einen einfachen und nüchternen Blick auf viele Dinge. In seiner typischen Bedächtigkeit beschreibt der Jurist und Geschichtenerzähler (Neues Buch „Mein stiller Freund“, 14 Kurzgeschichten) die Dinge aus einer intellektuellen Perspektive und zugleich so schlicht, dass ihm jeder einfache Mensch folgen kann. Sein Problem: Er ist nicht nur Beobachter des Mainstreams, er ist darin gefangen, sein Freidenken hat Grenzen. Der Mann, den Lanz als begeisterten „Autowanderer“ beschreibt, der sich gern durch die Lande treiben lässt, hat am Ende auch nur einen sehr eingeschränkten Blick auf die Dinge. Beispiel: Was er denn sehe, wenn er sich mit dem Auto durch Deutschland treiben lässt, will Lanz wissen, und von Schierach antwortet: „Tatsächlich kommt es drauf an, welchen Sender man gerade einstellt.“ Also nichts mit offenen Augen. Jeder ÖRR-Geschädigte spürt sofort: Auch dieser Mann ist letztlich nur fester Teil des Systems aus vorgefertigten und ständig wiederholten Meinungen.
Das zeigt sich vor allem in seinen Äußerungen zum Fall der gescheiterten Richter-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf. Hier sei eine „exzellente Juristin in Teilen der Öffentlichkeit zu einer Linksextremistin“ gemacht worden – so hatte Lanz das Thema bereits auf die Schienen gesetzt. Und siehe da: Wie der Moderator pflegt auch von Schierach einen sehr eingeschränkten Blick auf den Fall. Brosius-Gersdorfs haarsträubende Äußerungen zur Impfpflicht (sei sogar verfassungsrechtlich geboten) oder zu den Wählern der AfD (Stichwort: „beseitigen“) werden komplett ignoriert. Selbst die substantiierten und äußerst umfangreichen Plagiatsvorwürfe spielen keine Rolle. Stattdessen stellt von Schierach die geschasste Kandidatin als ideale Besetzung für das Bundesverfassungsgericht dar. Man müsse sich nur genau „anschauen, was Frau Brosius-Gersdorf überhaupt gesagt hat“. Ihre Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch etwa sei „alles andere als abwegig“. Sein Fazit: „Solche Leute wie Brosius-Gersdorf sind dringend notwendig“. Dann versteigt er sich zu einer These, die Fragen aufwirft. Alle, die in das Verfassungsgericht einziehen, „geben an der Tür ihre Parteizugehörigkeit ab“. Ob von Schierach je von einem Stephan Habarth gehört hat, der offen und ungeniert mit der Kanzlerin essen ging, die ihn zuvor ins Amt gehievt hatte?
Von Schierachs Kritik am Steuersystem hingegen kann jeder Otto Normalo leicht nachvollziehen. Es sei schlichtweg „nicht zu verstehen für viele Leute.“ Er kritisiert „die ganze Absetzerei“ und stöhnt: „Wir machen etwas, was vollkommen irre ist. Wir machen eine Regelung eines jeden winzigen Einzelfalles, und dann machen wir noch noch eine Ausnahme zu dem Einzelfall und dann nochmal eine Ausnahme zu der Ausnahme.“ Im Kaffeehaus zahle man verschiedene Mehrwertsteuersätze, je nachdem, ob man seinen Kaffee mit Milch oder Hafermilch nehme und ob man ihn drinnen oder draußen trinke. „Wir sind doch vollkommen jeck“, sagt er fassungslos. Seine Forderung: Alle Ausnahmen weg und nur noch drei Steuersätze. Das ergebe am Ende sogar Mehreinnahmen, mit denen man nach norwegischem Vorbild einen Fonds bestücken könne. Und der Politik schreibt er ins Lastenheft: Den Bundeskanzler für sieben statt vier Jahre wählen und alle Landtagswahlen auf einen gemeinsamen Tag legen. Politiker seien ja „alle ehrenhafte Leute“. Steile These…
Soziale Netzwerke sind für von Schierach hingegen „mit die größte Gefährdung für die Demokratie“. Sie hätten „Horrorszenarien wie den Brexit“ ermöglicht, seien eine „Jauchegrube“ und behinderten die Meinungsfreiheit. Das Brett, auf dem er steht, wird immer dünner. Er fordert „extrem hohe Steuern“ für Digitalkonzerne, um damit den Menschen „Medienkompetenz“ beizubringen.
Beim Thema Gaza wird deutlich, dass auch ein Denker wie von Schierach am Ende nicht aus seiner Haut kann. Er ist Gefangener seiner eigenen Geschichte. Schierach, Enkel eines der größten Nazi-Kriegsverbrecher (Baldur von Schierach), gibt zu, dass er niemals das Wort gegen Juden erheben könne. „Bei Israel müssen wir ganz besondere Maßstäbe anlegen“, sagt er. Dass die Verbrechen der Hamas bei Demonstrationen etwa in Berlin bejubelt wurden, bereitet ihm erkennbar Schmerzen. Und mehr noch: „90 Prozent der Palästinenser glauben nach wie vor dass die Hamas keine Massaker verübt hat. Das liegt an den sozialen Medien. An nichts anderem.“
Dazu hat dann auch Rehlinger noch etwas Wichtiges zu sagen: „Deshalb ist und bleibt es ‘ne Gratwanderung.“
Ah ja, guter Hinweis. Respekt und Anerkennung an der Stelle!