
Um ein hartes Vorgehen in der Corona-Zeit rechtfertigen zu können, wandte sich das Kanzleramt im November 2020 sogar an die damalige Ethikratsvorsitzende Alena Buyx. Das geht aus einem der Welt vorliegenden Mail-Verkehr zwischen dem Referat für Kirchen, Religionsgemeinschaften und Sonderaufgaben und der Professorin für Medizinethik hervor. Eine Mitarbeiterin des Referats habe Buyx demnach nach einer Sammlung von wichtigen Schriftstücken zum Umgang mit der Gesellschaft in der Pandemie gefragt.
Das Kanzleramt wollte sich einen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen bei der Pandemiebekämpfung verschaffen, damals noch mit Gesundheitsminister Jens Spahn. Doch Buyx konnte nicht liefern: „Zur Abwägung von Lockdowns / Verhältnismäßigkeitsfragen gibt es leider den einen knackigen Artikel nicht“, stellte sie fest.
Doch die Antwort endete an dieser Stelle nicht. „Wenn ich irgendwie Zeit finde, dann schreibe ich ihn…“, lenkte Buyx ein, obwohl sie nur „unüberschaubare Ethik-Literatur“ finden konnte – fünf Schriftsätze wurden dennoch angeführt, die eine Richtung vorgeben sollten. Aus Transparenzgründen hielt Buyx fest, an einigen der Texte beteiligt gewesen zu sein, deren Inhalt schlüsselte sie aber nicht weiter auf.
Dabei sind die daraus hervorgehenden Empfehlungen allesamt unkritisch. Neben zwei Briefings der Schweizer Covid-Task Force, die Buyx „übrigens generell, zu ethischen und nicht-ethischen Fragen“ empfehlen würde, fand sich auch eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrats – allerdings aus Frühjahr 2020, als Buyx noch nicht die Vorsitzende des Gremiums war. Es ist der einzige Text, der nicht ganz ins Bild passt.
Während in der Stellungnahme immerhin die Verhältnismäßigkeit der Lockdowns ansatzweise hinterfragt wurde, wurden in den anderen Texten durchweg harte Maßnahmen gefordert, ohne dabei auf die ethischen Fragen einzugehen, die das Kanzleramt aber eigentlich klären wollte. Die Welt hakte nach, recherchierte einige damals erschienene Artikel, die eben doch etwas zur dieserzeit vorherrschenden medizinethischen Lage auszusagen hatten.
Darunter fanden sich maßnahmenkritische Aufsätze, Texte aus etablierten Fachzeitschriften wie dem Journal of Bioethic Inquiry oder dem Journal of Medical Ethics. Darin wurden beispielsweise die Art und Weise des Lockdowns oder auch explizit die Isolation von Senioren kritisch hinterfragt. Buyx ist von der Themenrelevanz dieser Publikationen dennoch nicht überzeugt.
Das seien „keine Artikel zur Ethik“, antwortete sie auf eine Anfrage der Welt. Weitere Untersuchungen und Evaluationen seien zudem „in einem Journal veröffentlicht, das in meinem Fach nicht einschlägig ist“. Außerdem seien einige der angeführten Beispiele erst nach der Antwort-Mail an das Kanzleramt erschienen, behauptete die Medizinethikerin – doch das stimmt nicht.
Dass die von Buyx getroffene Auswahl zumindest streitwürdig ist, zeigt sich auch in der Klarstellung der ehemaligen Ethikratsvorsitzenden, sie habe die Mail nicht als Mitglied des Gremiums, sondern als Professorin für Medizinethik gesendet. Doch auch das ist offenbar falsch, wurde der Mail-Verkehr im Kanzleramt doch unter „E-Mail von Ethikrat an Abteilungsleiterin“ geführt.
Die Mail ist ein weiteres Puzzlestück, das den staatlichen Versuch, repressive Maßnahmen ein- und weiterzuführen, belegt. Auch die Rolle des Ethikrats wird einmal deutlicher: das eigentlich unabhängig entscheidende Gremium wandte sich nach der Übernahme durch Buyx im Mai 2020 der Bundesregierung zu – alle daraufhin erschienenen acht Stellungnahmen beziehungsweise Ad-hoc-Empfehlungen sind mehr oder weniger maßnahmenfreundlich ausgefallen.
So sprach sich der Ethikrat im Dezember 2021 auch für eine allgemeine Impfpflicht für Erwachsene aus. Vorausgegangen war die Ministerpräsidentenkonferenz aller 16 Länderchefs mit Bundeskanzler Olaf Scholz, die am 9. Dezember 2021 eine allgemeine Impfpflicht beschlossen hatten.
Der Ethikrat sollte deshalb in der Folge die noch 2020 geäußerte Ablehnung der Impfpflicht überarbeiten und eine „Einschätzung zu den ethischen Aspekten einer allgemeinen Impfpflicht“ vorlegen, so die Bundesregierung. Dieser Aufforderung kam der Ethikrat am 22. Dezember fast widerspruchslos nach (Apollo News berichtete).