
Die Einstufung der gesamten AfD als „gesichert rechtsextrem“ durch den Inlandsnachrichtendienst kommt für niemand überraschend, der sich mit der Einflussnahme des Verfassungsschutzes auf zentrale politische Debatten befasst. Die dem Innenministerium nachgeordnete Behörde will schon seit längerem nicht nur beobachten, sondern direkt in den öffentlichen Meinungskampf eingreifen. Zwar kennen nur sehr wenige das Gutachten, mit dem der Dienst die stärkste Partei Deutschlands als „gesichert rechtsextrem“ einstuft, abgesehen von einigen handverlesenen Journalisten, die schon vor Monaten Details durchstachen. Aber die zentrale Argumentation darin ist bekannt, und sie überrascht auch nicht.
Die Extremismuseinstufung beruht darauf, dass die AfD einen vorgeblich verfassungswidrigen Volksbegriff verwendet, wenn sie darauf besteht, dass es eine historisch-kulturell hergeleitete Identität der Deutschen gibt. Schon wer zwischen autochthonen Deutschen und Zuwanderern mit deutschem Pass überhaupt einen kategorialen Unterschied sieht, steht nach dieser Doktrin außerhalb der Verfassung. Und zwar selbst dann, wenn eine Partei daraus gar keine politischen Forderungen ableitet, etwa eine rechtliche Schlechterstellung von Eingebürgerten. Denn eine entsprechende Passage findet sich im Programm der AfD nicht.
Wie der Verfassungsschutz argumentativ vorgeht, ergibt sich schon aus dem Gutachten der Behörde zu dem Buch „Kulturkampf um das Volk. Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen“ des Politikwissenschaftlers Martin Wagener, dem der Dienst Verfassungsfeindlichkeit unterstellt. In seinem Werk, erschienen 2021, befasst sich der Wissenschaftler mit der Frage: Auf welche Weise verändert sich das Land, wenn durch eine forcierte Einwanderung vor allem aus islamischen Ländern immer mehr Menschen in der Bundesrepublik leben, die ihre Identität aus anderen Quellen als aus einer persönlichen Bindung an deutsche Kultur und Geschichte beziehen? Nationale Identität, so seine Argumentation, beschränke sich nicht auf die Staatsbürgerschaft; sie entwickle sich in einem langen historischen Prozess, und sie könnte unter bestimmten Umständen auch wieder zerfallen.
Die zentrale These von „Kulturkampf um das Volk“ lautet, mit Angela Merkel als Kanzlerin habe die Umwandlung einer gewachsenen kulturellen in eine multikulturelle Nation begonnen – und das gegen den Mehrheitswillen der angestammten Bürger. Zum zweiten kritisiert Wagener die Auslegung des Volksbegriffs durch Verfassungsschutz und Politik. Der Inlandsgeheimdienst, argumentiert der Politikwissenschaftler, sehe schon in jedem, der „Volk“ in Zusammenhang mit einer historisch hergeleiteten, also gewachsenen Kultur stellt, einen Verfassungsfeind. Für beides finden sich Belege, auch ganz unabhängig von Wageners Buch. Auf dem Landesparteitag der CDU Mecklenburg-Vorpommern im Februar 2017 etwa sagte Merkel den Schlüsselsatz: „Das Volk ist jeder, der in diesem Lande lebt.“
Genau das bestimmt schon das Grundgesetz in Artikel 116 anders – und zwar bis heute. Abgesehen von der Definition des Staatsvolks durch die Staatsangehörigkeit ignorieren auch die wenigsten im realen Leben, dass es Unterschiede zwischen alteingesessenen Bürgern und neu dazugekommenen gibt. Wenn die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung Ferda Ataman von ‚Kartoffeln‘ sprach, meinte sie nicht sich, obwohl sie auch den deutschen Pass besitzt, sondern, um einen anderen Ausdruck zu bemühen, ‚Biodeutsche‘. Von dem gleichen Teil der Gesellschaft, zu dem sie sich selbst nicht zählen, sprechen auch viele Türken und Araber mit deutscher Staatsbürgerschaft, wenn sie die Wendung Almans benutzen. Dass der Besitz der Staatsbürgerschaft für Zuwanderer kulturelle Bindung bedeuten kann, aber eben nicht muss, zeigte das Beispiel einer eingebürgerten türkischen Frau, die Bundeskanzler Olaf Scholz im Wahlkampf besuchte: Sie sprach und verstand trotz jahrzehntelangem Aufenthalt in Almanya praktisch kein Wort Deutsch.
Genau dieser Problemstellung widmet sich Wagener: Was bedeutet es, wenn immer mehr Menschen in diesem Land leben, die sich nicht als Almans betrachten, und es auch nicht werden wollen? Weder unterstellt der Autor, dass Migranten die deutsche Kultur adaptieren können, noch fordert er in irgendeiner Weise die Schlechterstellung von Eingewanderten mit deutschem Pass gegenüber Alteingesessenen. Er entwickelt auch keinen ethnischen, sondern einen kulturellen Volksbegriff. Er befasst sich vielmehr mit der Veränderung des Landes durch die Migration, aber auch durch eine Gesellschaftspolitik, wie Merkel sie prägte. Nach Ansicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz erfüllt der Professor schon damit die Kriterien des Extremismus.
Wie kann überhaupt jemand zu der Konstruktion kommen, einen Wissenschaftler wegen eines Buchs als Sicherheitsrisiko einzustufen? „Eine umfangreiche Begutachtung der Publikation ‚Kulturkampf um das Volk – Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen‘ von Herrn Wagener“, heißt es dort, „hat ergeben, dass aufgrund der Publikation tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bei Herrn Wagener vorliegen. Diese resultieren aus einem ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff, der im Widerspruch zu Art. 1 Abs. 1 GG steht.“ Das Verfassungsschutzpapier wirft nicht nur wegen der darin enthaltenen Anmaßung ein trübes Licht auf den Dienst, sondern auch durch die Qualität seiner Argumentation.
Denn bei Artikel 1 Grundgesetz handelt es sich wie bei den anderen Grundrechten um Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Ein einzelner Bürger kann gar nicht dagegen verstoßen. Auch als Professor nicht. Zweitens verwendet der Staat den „ethisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff“, der nach Meinung der Kölner Behörden jeden schon durch bloße Benutzung ins Extremistenlager bringt, in etlichen Fällen selbst. Etwa, wenn die Regierung den Gemeinschaften der Russland- und Rumäniendeutschen Gelder für die Pflege der deutschen Kultur zur Verfügung stellt, und Russlanddeutschen die Übersiedlung in die Bundesrepublik anbietet. Bei ihnen handelt es sich schließlich nicht um deutsche Staatsbürger, aber um ethnische Deutsche.
Es gibt sogar eine Bundesbeauftragte „für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten“ namens Natalie Pawlik – angesiedelt im Hause Faeser. Auch das 1989 gegründete „Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ konnte es ohne einen ethnischen Volksbegriff gar nicht geben, der übrigens auch gar nicht im Gegensatz zum deutschen Staatsbürgerschaftsrecht steht. Denn sie beziehen sich auf jeweils unterschiedliche Bedeutungsfelder. Genau darum geht es ja gerade in Wageners Studie. Kulturstaatsministerin Claudia Roth taufte das Institut im September 2023 eilig in „Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa“ um. Nach seiner eigenen Herleitung müsste der Dienst auch annehmen, dass sich Roth und das Institut bis mindestens 2023 verfassungsfeindlich betätigten, seine oberste Vorgesetzte sogar bis heute.
Wie begründet der VS-Buchbegutachter nun überhaupt seinen Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit über die bloße Behauptung hinaus, jeder, der schon von der Existenz eines historisch-kulturellen Volksbegriffs ausgeht, verstoße damit gegen das Grundgesetz? Hier wird es ernsthaft abenteuerlich. „Weiterhin vertritt Herr Wagener“, notiert der Nachrichtendienstler, „in seinem Buch die These einer stetig abnehmenden Teilmenge des deutschen Volkes in Relation zum neuen multikulturellen deutschen Staatsvolk sowie einer Umformung der deutschen Kulturnation zur Willensnation. Damit weisen seine Ausführungen in dem Werk Parallelen zum in der Neuen Rechten weit verbreiteten Narrativ des ‚Großen Austausches‘ auf, wonach die europäischen Völker in ihrer ethnischen und kulturellen Zusammensetzung aufgelöst und durch außereuropäische Einwanderer und Einwandererinnen ersetzt werden.“
Dass sich die Relation zwischen autochthonen Deutschen und außereuropäischen Zugewanderten und damit auch die ethnische und kulturelle Zusammensetzung verändert, und das seit 2015 beschleunigt, bestreitet auch der Beamte sinnvollerweise nicht. Von einem „großen Austausch“ schreibt Wagener wiederum nichts, er stützt seine Überlegungen schlicht auf die Faktenbasis einer demografischen Veränderung, die jeder beim Statistischen Bundesamt nachlesen kann. Der Handgriff des Schriftprüfers besteht also darin, zu sagen, das Offensichtliche und Unbestrittene, was der Politikwissenschaftler beschreibe, weise eine „Parallele“ zu einem Begriff auf, den die „Neue Rechte“ benutzte.
Der Professor und Autor erhebt auch nirgends die Forderung – ebensowenig wie die AfD, siehe oben –, eingebürgerte Zuwanderer rechtlich schlechter zu stellen. Da dieser Gedanke in dem Buch also nicht vorkommt, notiert der Bewerter, Wagener erkläre Zugewanderte „letztlich“ zu „Menschen zweiter Klasse“. „Parallele“, „letztlich“. Irgendeine auch noch so vage Definition von „Neue Rechte“ liefert unser Bundesschrifttumseinschätzer an keiner Stelle. Als Belege genügen ihm sechs kontextlose (und völlig extremismusfreie) Zitate aus dem Buch.
Dazu kommt noch eine Pointe: Exakt das, was Wagener in seinem angeblich verfassungsfeindlichen Werk skizziert, beschreibt auch die Integrationsforscherin Naika Foroutan mit Lehrstuhl an der Humboldt-Universität durch ihren Begriff von der „postmigrantischen Gesellschaft“. Der bedeutet nicht etwa, dass die Migration nach Deutschland endet, sondern den Übergang in eine neotribale Gesellschaft, in der die Deutschen mit deutschen Vorfahren nur noch eine Gruppe unter vielen anderen bilden. In einem Interview mit dem Stern über ihr Buch „Es wäre einmal deutsch“ erklärte Foroutan 2023: „In einer Gesellschaft, in der jede dritte Familie Migrationsbezüge aufweist und jedes vierte Kind einen Migrationshintergrund hat, wird deutsche Ahnenschaft als Bezugskategorie immer schwammiger … Wir brauchen hier ein postmigrantisches Narrativ, das die binäre Festschreibung in Migranten und Einheimische aufbricht und dahinter das gemeinsame, vielfältige Ganze beschreibt, das in Teilen bereits da ist und sich weiterentwickelt. Ganz abgesehen davon, dass bis 2036 möglicherweise schon fast die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland selbst migrantische Biografien haben wird – zumindest bei den jungen Menschen. Die deutsche Kerngesellschaft verändert sich also.“
In ihre Rede flicht Foroutan auch noch die Formel von der „white fragility“ ein, die Abwertungsformel für alle, die Veränderungen dieser Art womöglich nicht rückhaltlos begrüßen. Inhaltlich deckt sich das sehr weitgehend mit der Analyse Wageners. Beide Bücher unterscheiden sich im Wesentlichen dadurch, dass Wagener diese Vorgänge nicht für unausweichlich hält, und in ihrem unveränderten Fortgang auch keine gesellschaftliche Verbesserung erkennt. Für die Migrationswissenschaftlerin, die genauso wie er zwischen der „deutschen Kerngesellschaft“ und den anderen unterscheidet, erfüllt sich dagegen in der von ihr befürworteten Transformation des alten Deutschlands in einen neuen Staat ein historischer Determinismus.
Das heißt: Es kommt also für das Verdikt der Verfassungsfeindlichkeit für die Verfahrenslenker im Innenministerium, im Nachrichtendienst und der Hochschule selbst gar nicht auf den Inhalt an, den ein Wissenschaftler vertritt – sondern einzig und allein auf das jeweilige Vorzeichen. Wer wie Foroutan die Umformung der Gesellschaft begrüßt, erhält Einladungen zu Podiumsdiskussionen, und für seine Projekte Fördergelder des Bundesforschungsministeriums. Wer das Gleiche skeptisch beurteilt, darf seinen Hörsaal nicht mehr betreten, muss um seine Professur fürchten und sich obendrein wegen eines halsbrecherisch herbeigebogenen Verstoßes gegen Artikel 1 Grundgesetz zum Sicherheitsrisiko stempeln lassen. So, als müsste man sich um die Unversehrtheit der Studenten sorgen, sollte Wagener jemals wieder zurück ans Lehrpult dürfen. Denn dahin darf er nicht, da ihm der BND, zu der die Hochschule der Dienste des Bundes zählt, die Sicherheitseinstufung aufgrund des Verfassungsschutzgutachtens zu seinem Buch entzog. Er verfügt also noch über seine Professur – darf seinen Hörsaal aber nicht mehr betreten.
So ähnlich könnte übrigens auch das rechtliche Vorgehen gegen die AfD verlaufen: Möglicherweise versucht die Bundesregierung mit dem Verfassungsschutz-Gutachten in der Hand, die Oppositionspartei erst einmal von der staatlichen Parteienfinanzierung abzuschneiden.
Allerdings entscheidet auch darüber das Bundesverfassungsgericht.