
Besonders im Umfeld von Wahlen erfreuen sich Aufrufe zur Rettung „unserer Demokratie“ hoher Beliebtheit. So auch bei der rhetorisch zum Endkampf um den liberalen Rechtsstaat hochstilisierten jüngsten Bundestagswahl. Manche Kommentatoren sehen in deren Ergebnis gar aufkommende Weimarer Verhältnisse, also den drohenden Übergang in eine schreckliche Finsternis. Union und Sozialdemokratie müssten nun liefern, sonst wäre „unsere Demokratie“ vielleicht schon in vier Jahren am Ende. Hinter solchen Appellen verbirgt sich aber gerade nicht die Sorge um das Wohlergehen des Landes. Sondern allein der egoistische Wunsch nach Machterhaltung für eine kleine Kaste von Protagonisten bestimmter politischer Strömungen. Denn bei näherem Hinsehen entpuppt sich „unsere Demokratie“ mitnichten als Wunderwaffe zur Verteidigung von Recht und Freiheit. Sie stellt lediglich einen Mechanismus zur Konservierung des Bestehenden dar.
Generell ist eine Demokratie ein Prozess zur strukturierten, nicht zufälligen und regelmäßigen Einbeziehung der Bürger in die Regierungsfindung. Dies geschieht in freien und geheimen Wahlen, was die Demokratie von der Autokratie unterscheidet. Das Wahlrecht, mithin die Art und Weise, in der aus diesen Stimmen die Zusammensetzung von Parlamenten oder auch von Regierungen abgeleitet wird, konstituiert daher die Demokratie. Und dies kann auf vielfältige Weise erfolgen. Doch schon wer meint, dabei müsse und könne idealerweise jedem einzelnen Wähler das gleiche Gewicht zukommen, unterliegt einem fundamentalen Irrtum. Es gibt schlicht kein mathematisches Verfahren, das jeder einzelnen Wahlentscheidung eine identische Wirkung zuweist. In „unserer Demokratie“ bleiben zunächst Nichtwähler und ungültig Wählende ungehört, deren Verhalten auch eine Botschaft sendet. Die Hürde von fünf Prozent macht darüber hinaus Millionen Stimmen unwirksam. Der ungleiche, häufig politischer Einflussnahme unterliegende Zuschnitt der Wahlkreise sorgt außerdem für unterschiedliche Stimmgewichte. Diesmal ziehen sogar dutzende Wahlkreisgewinner nicht in das Parlament ein, was eine bedeutende Repräsentationslücke verursacht.
Noch naiver aber ist die Annahme, eine Demokratie führe durch die Abbildung des Volkswillens und der vorgeschalteten Prozesse der Kandidatenauswahl zu einer besonders fähigen, oder zumindest zu einer unter den jeweiligen Umständen optimalen Regierung. Auch Autokraten erlangen ihre Position erst nach einem harten Auswahlprozess, wenngleich dieser andere Charakteristiken als ein friedlicher, ziviler und demokratischer Wettbewerb aufweist. Sie sind daher nicht per se dümmer oder weniger geeignet. Die Masse ist nicht klüger als der Einzelne und selbst ein diktatorischer Alleinherrscher kann sich als überaus fähiger Anführer erweisen. Zumindest für eine gewisse Zeit.
Und genau in dieser Hinsicht hat die Demokratie einen intrinsischen Vorteil gegenüber allen anderen Staatsformen: Sie bietet einen effektiven Mechanismus zur Fehlerkorrektur. Während sich in naturgemäß wenig flexiblen Autokratien auch zunächst marginale Irrtümer im Zeitverlauf zu immer größeren Problemen addieren, können sich demokratische Gemeinschaften an Veränderungen anpassen. Einerseits gleicht der aufsummierte Wille größerer Gruppen allzu extreme und randständige Vorstellungen aus, andererseits vermag er vergleichsweise einfach einen Richtungswechsel einzuleiten. Die Demokratie reduziert das Ausmaß der allen politischen Entscheidungen zwingend innewohnenden Schnitzer und ermöglicht sogar rasche grundlegende Kursänderungen ohne den Einsatz von Gewalt. Demokratisch organisierte Gemeinschaften übertreffen autokratische nicht deswegen, weil sie in strittigen Einzelfällen schlauer entscheiden, sondern weil sie auf lange Sicht weniger, vor allem geringer ausgeprägte Dummheiten begehen und sich geschmeidiger neue Rahmenbedingungen zu Nutze machen.
Nur weist gerade in diesen Aspekten „unsere Demokratie“ erhebliche Mängel auf. Weil die Priorisierung des Verhältniswahlrechts die hegemoniale Stellung von Parteien als Räume einer dem demokratischen Wettbewerb weitgehend entzogenen und der Regierungsfindung vorgeschalteten elitären Willensbildung zementiert. Denn nur größere Einheiten mit entsprechender Kapital- und Personalausstattung verfügen über eine für den Erfolg in Listenwahlkämpfen ausreichende Mobilisierungskraft. Um als einzelner Politiker in einer Partei Ämter und die Aussicht auf ein Mandat zu erlangen, ist ein hohes Maß an Anpassung erforderlich. Die mit der Perspektive auf langfristige Planbarkeit einer Laufbahn als Berufspolitiker belohnt wird, sofern die eigene Position eine andauernde Absicherung über eine Wahlliste garantiert.
Parteivorstände allein definieren in der Praxis diese Listen und entscheiden damit über die Zusammensetzung der Parlamente. In die schlussendlich nur Personal gelangt, das sich durch ein hohes Maß an Opportunismus sowohl gegenüber der Partei als auch gegenüber dem vorherrschenden gesellschaftlichen Zeitgeist auszeichnet, um sowohl im internen wie auch im externen Wettbewerb niemanden zu sehr zu verschrecken. Die Ergänzung durch für die Machtverteilung unerhebliche Direktwahlkreise schafft keine Abhilfe. Zumal deren geographische Gestaltung und personelle Bestückung ebenfalls den Parteien obliegen.
Hinzu tritt die starke Verbindung zwischen Legislative und Exekutive. Die Regierung wird durch das Parlament gewählt und ist daher auf eine Unterstützung in diesem angewiesen. Die größere Zahl der Volksvertreter fällt damit als Kontrolleur der Mächtigen für eine Legislatur aus, da die einzelnen Abgeordneten wissen, wie eng die persönlichen Chancen auf Wiederwahl, also auf einen sicheren Listenplatz, mit dem Ansehen der Regierung verbunden sind. Die Notwendigkeit, eine parlamentarische Mehrheit durch Koalitionsbildung erst einmal zu finden, räumt der jeweils drittstärksten Partei (früher FDP, Ende der neunziger Jahre durch die Grünen abgelöst) einen weit größeren Einfluss ein als gemäß ihrem tatsächlichen Wahlergebnis statthaft. Sie kann Partikularinteressen langfristig als Leitplanken für alle anderen Auffassungen verankern und dies sogar über mehrere Regierungswechsel hinweg.
So gestattet „unsere Demokratie“ den Parteien, eine Form demokratisch legitimierter Autokratie zu errichten, die als beständig und verlässlich verkauft, was in Wahrheit nur Lähmung und Sturheit darstellt. Es ist hierzulande fast nicht mehr möglich, etwas abzuwählen. Es ist fast nicht mehr möglich, einmal eingeschlagene Irrwege wie in der Energie- oder der Migrationspolitik wieder zu verlassen.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich im Ergebnis der Bundestagswahl ein Ausdruck des Misstrauens der Bevölkerung gegen „unsere Demokratie“. Die Wähler haben die Opportunisten bestraft, deren Wort von „notwendigen Kompromissen in der demokratischen Mitte“ primär den Zugang zu Ämtern und Mandaten konservieren will und nicht etwa auf die Interessen Deutschlands und seiner Bürger abhebt. AfD und Linke streichen den Lohn für die beharrliche Verteidigung ihrer Prinzipien gegen alle Widerstände ein. Das sozialdemokratische Gegenbeispiel des Verzichts auf jegliches Alleinstellungsmerkmal wird entsprechend bestraft. Friedrich Merz rettet seine Union nur durch die Botschaft auf den ersten Platz, es wirklich ernst mit der Begrenzung der Zuwanderung zu meinen.
Was er spektakulär und öffentlichkeitswirksam durch das Ignorieren jedweder Brandmauer-Dogmatik im alten Bundestag wenige Tage vor der Wahl unterstreicht. Die Grünen verlieren, weil ihre strategische Beliebigkeit in der Partnersuche selbst die eigenen Anhänger verschreckt. Das BSW hat sich durch die Beteiligung an zwei Landesregierungen in einer Weise prostituiert, die viele Wagenknecht-Fans vertreibt. Und die Königin der Anpassung, die FDP, die den Grünen beim Heizungsgesetz, beim Verbrennerverbot und beim Atomausstieg willig folgte, nur um zu versprechen, dies mit der Union alles wieder rückgängig zu machen, wird deutlich in die außerparlamentarische Opposition geschickt.
Ein Wahlergebnis also, das mehr Reife bei den Bürgern zeigt als bei ihren Repräsentanten. Ein Wechsel ist nun zwar unvermeidbar, aber weil es sich eben um „unsere Demokratie“ handelt, können die Protagonisten ihn erneut nur halbherzig und mit reduzierten Ansprüchen durchführen. Was die wahren Motive der Verteidiger „unserer Demokratie“ verdeutlicht, denen es nicht um die Demokratie als solche, sondern um den Parteienstaat als Quelle ihrer Bedeutung und ihres Auskommens geht. Der zweifellos seine Zeit hatte. Als es darum ging, sich vom Erbe einer Diktatur zu emanzipieren und Deutschlands innere wie äußere Sicherheit zu gewährleisten. In einer Zeit wohlgemerkt, in der die Menschen weit weniger mobil, weit weniger informiert, weit weniger vernetzt und daher weit einfacher zu sedieren waren.
Zur Gegenwart mit ihren globalisierten Wertschöpfungsketten, ihren ungefilterten Medien und dem rasanten technischen Fortschritt, der Individuen ein nie gekanntes Maß an Autonomie und Autarkie gestattet, passt er nicht mehr. Mit der jetzt enthüllten Fragmentierung der Gesellschaft und der Volatilität im Wahlverhalten sind jene Autoritäten überfordert, die sich nur mehr auf die Apathie von Rentnern und Pensionären stützen. Die jüngeren Wähler, die bei der letzten Wahl noch Grün und Gelb bevorzugten, wechseln in Scharen zu Blau und Tiefrot und werden diese Beweglichkeit angesichts eines anhaltend dynamischen Wandels auch beibehalten. Beibehalten müssen, damit die Demokratie ihre überlegene Anpassungsfähigkeit tatsächlich zum Vorteil aller ausspielen kann.
Im Wahlergebnis manifestiert sich nicht nur die Sehnsucht nach neuen politischen Angeboten, sondern auch der Wunsch, deren Vertreter einfach mal machen zu lassen. Um sie dann schnell wieder von der Macht zu entfernen, wenn sich ihre Konzepte als ungeeignet erweisen. „Unsere Demokratie“ vermag das nicht mehr zu leisten. Es braucht eine „neue Demokratie“, die hochfrequente und radikale Kurswechsel gestattet, weil nur diese Deutschlands Prosperität in einer sich ebenso hochfrequent und radikal ändernden Welt absichern können. Das ist die Kernbotschaft dieser Wahl. Und die Wähler werden sie so lange wiederholen, bis man sie hört und versteht.