
Die Ergebnisse von Parteien verlaufen in Wellen. Sie sind einem ständigen Auf und Ab unterlegen. Wer sie also im historischen Vergleich betrachten will, muss die Aufs mit den Aufs und die Abs mit den Abs vergleichen. In der Bundestagswahl im Februar holte die SPD 16,4 Prozent, ihr historisch schlechtestes Ergebnis – damit hat sie ein Ab erreicht. So dachte man. Doch in der Koalition mit der Union geht es weiter abwärts. Insa sah die SPD in einer Umfrage jüngst bei 13 Prozent.
Das wirkt verwunderlich. Von Februar bis Mai ist der Parteivorsitzende Lars Klingbeil von einem Erfolg zum nächsten geschwommen. In den Koalitionsverhandlungen hat er Friedrich Merz (CDU) häufiger über den Tisch gezogen als einen Küchenschwamm. Vor allem die Wirtschaftspolitik trägt sozialdemokratische Züge, obwohl die Christdemokraten das Ressort mit einer der ihren besetzt haben: mehr staatliche Eingriffe und kein Bremsen des Anstiegs der Lohnnebenkosten. Zudem ist die Reform des Bürgergelds vom Tisch. In Berlin gibt es weniger Christdemokraten, die das Wort überhaupt noch in den Mund nehmen als Zauberer, die in den Büchern um Harry Potter den Namen Lord Voldemort offen aussprechen.
Das größte Problem der SPD ist, dass sie ihr Gespür für Themen verloren hat. Vielmehr hat sie es freiwillig aufgegeben. Als 1992 in Deutschland Helmut Kohl (CDU) wie ein unbesiegbarer Gegner wirkte, jagte in den USA der Demokrat Bill Clinton überraschend den Amtsinhaber George Bush Senior aus dem Amt – obwohl dessen außenpolitische Bilanz brillant war. Er war der Mann, unter dem nach 40 Jahren Kalter Krieg der Ostblock zusammenbrach.
Von 1992 an waren die deutschen Sozialdemokraten bereit, von den amerikanischen Demokraten zu lernen. Anfangs durchaus erfolgreich. Vor allem ihr späterer Spitzenkandidat Gerd Schröder bläute sich das Leitmotto Clintons ein: „It’s the economy, Stupid“. Es ist die Wirtschaft, Dummkopf. Mit modernen Mitteln der Kampagne und mit einer Konzentration auf Wirtschaftspolitik im Sinne von Mehren des allgemeinen Wohlstands wurde die SPD mit rund 40 Prozent stärkste Partei und übernahm das Kanzleramt. Das letzte Auf.
Dabei würde die Antwort auf genau diese Frage zum Grund der abflauenden SPD-Welle führen. Die Demokraten wie mit Verzögerung die SPD setzen auf den ganzen woken Mist. Sie verfolgen die Strategie, wenn sie alle Minderheiten hinter sich bekommen, dann haben sie die Mehrheit. Doch das funktioniert nicht. Ärzte, Architekten, Handwerker und Bandarbeiter warten nicht auf einen Lauch, der kein Gluten verdauen kann, ihnen aber aus seiner Schutzzone heraus bis ins Detail diktieren will, wie sie zu leben haben.
Das jüngste Thema, das die SPD von den Demokraten übernommen hat, ist die Legalisierung der Abtreibung. Die Sozialdemokraten wollen Frauke Brosius-Gersdorf nicht zur Richterin am Verfassungsgericht machen, obwohl sie im Ruf steht, für die Legalisierung der Abtreibung zu sein – sondern weil. Für diese Legalisierung gibt es, zumindest laut Umfragen, eine Mehrheit. Doch die Sozialdemokraten haben eine atemberaubend falsche Einschätzung vom Charakter dieser Mehrheit. Es findet sich vermutlich ebenfalls eine Mehrheit dafür, kranken, leidenden Menschen eine Erleichterung des Sterbens zu ermöglichen. Nur käme niemand auf die Idee, sich auf X dafür zu feiern, dass man wieder jemand um die Ecke gebracht habe. Genau das tun aber Aktivisten aus dem sozialdemokratischen Milieu. Sie feiern den Mord an Ungeborenen als ihren Triumph – weil sie sich durchgesetzt haben. Wieder folgen sie nur ihrer Berliner Logik und verstehen nicht, wie das außerhalb der Blase ankommt. Eine Mehrheit mag zwar dafür sein, einer verzweifelten Schwangeren in prekärer Lage einen Ausweg zu eröffnen. Aber kein vernünftiger Mensch will, dass sie danach den toten Fötus wie eine Trophäe feiert. Nur linke Aktivisten wollen das. Also keine vernünftigen Menschen.
Mit dieser Generation an Abgeordneten wird die SPD kein Gespür für Themen mehr finden. Je mehr sie sich in der Koalition gegen die willensschwache Union durchsetzt, desto mehr werden beide Parteien verlieren. Schon jetzt hat die einst „große Koalition“ in den Umfragen keine Mehrheit mehr. Nur ist die SPD eine Funktionärspartei. Für sie ist die Opposition tatsächlich „Mist“, denn da gibt es kaum Posten an die Funktionäre zu verteilen. Wo die SPD das aber auf Dauer nicht kann, da sinkt sie ab wie in Bayern oder Baden-Württemberg.
Die Demokraten können sich das Auf und Ab der Wellen leisten. Im amerikanischen Zwei-Parteien-System. Sie müssen nur lange genug warten, dann schwemmt ein Ab der Republikaner sie schon wieder nach oben. Im deutschen Verhältniswahlrecht sieht das anders aus. Da gibt es auf der rechten Seite der SPD die Grünen, die ihnen ihr altes Erfolgsrezept abgeschaut haben: linkes Gehabe, bei eigenem konservativen Lebensstil, finanziert durch erfolgreiche Raubzüge auf die öffentlichen Kassen. Auf der linken Seite stehen die Linken und greifen mit Maximalforderungen all die Experten ab, die sich selbst für maximal schlau halten und die wie Heidi Reichinnek die Verstaatlichung der Bahn fordern, weil es so gut klingt – weshalb sie sich nicht darum kümmern, dass die Bahn schon dem Staat gehört.
2021 gewann Olaf Scholz für die SPD die Wahl. Wenn auch mit fast 15 Prozent weniger als zuvor Gerd Schröder und etwa 20 Prozent weniger als davor Willy Brandt. Schon das war ein Auf, das niedriger ausfiel als die vorhergehenden Aufs. Das Gleiche gilt für die Abs. Das letzte vor Scholz hatte die SPD 2019. Es führte zum Rücktritt von Andrea Nahles. Damals gab es in der Partei eine Debatte, ob es überhaupt noch richtig sei, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen oder ob das nicht zu peinlich wirke. Momentan rangiert die SPD 15 bis 30 Prozent unterhalb des letzten Abs.
Sie wird sich trotzdem nicht die richtigen Fragen stellen: Warum ein Donald Trump in den USA zweimal Präsident wurde? Warum die AfD in Deutschland gesichert über 20 Prozent steht? Die Antworten darauf würden eine Erkenntnis bringen, die Basis für ein neues Auf sein könnten. Doch wer nicht fragt, bleibt dumm. Lars Klingbeil wird weiter drauf setzen sich durchzusetzen. Gegen den willensschwachen Friedrich Merz kein Problem. Also das Durchsetzen. Aus diesem folgt aber eine sozialdemokratische Politik. Die wird sehr wohl zum Problem für die Partei. Was nur fair ist. Denn für das Land ist das ein noch viel größeres Problem.