
Dem britischen Wochenmagazin Economist ist diese Woche etwas an Deutschland aufgefallen. In der Abteilung „Europe“ steht da ein bisschen lapidar, aber ansonsten ganz unverblümt: „The threat to free speech in Germany“, was ich mit „Die Bedrohung der Meinungsfreiheit in Deutschland“ übersetzen würde.
Es steht aber noch mehr da. Darüber heißt es, etwas kleingedruckt, aber doch sehr gut lesbar: „Germany’s gag reflex“, was mit Deutschlands Würgereflex zu übersetzen wäre. Mit „würgen“ ist hier „abwürgen“ gemeint – so wie bei einer Würgeschlange. In Deutschland, das sagt der Economist hier ziemlich eindeutig, wird die freie Meinung fast schon reflexhaft abgewürgt. Und zwar von Gerichten auf Antrag der Obrigkeit.
Beim britischen Economist wundert man sich über die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Deutschland.
Wow! Endlich mal eine klare Aussage. Und was für eine Aussage dazu. Denn das ist die Art von Einschätzung, mit der sonst totalitäre Länder charakterisiert werden – Sie wissen schon: Länder wie Kuba, Nordkorea, China natürlich, Russland und Simbabwe. Und in diese illustre Nachbarschaft gehört jetzt – wie zumindest der Economist meint – inzwischen auch Deutschland.
Totalitäre Regierungen kennt man eher aus Ländern wie Kuba, China oder auch Nordkorea. Hier: ein Militäraufmarsch in Pyongyang.
Eine solche Aussage kommt jetzt doch etwas überraschend, wo uns doch die Legacy-Medien, ARD und ZDF und alle Regionalsender tagtäglich und lebenslänglich erklären, dass bei uns alles am besten wäre: die Autobahnen, die Eisenbahn, die Wirtschaft, die Kultur, die Politik – und die Presse sowieso. Und natürlich auch die individuelle Freiheit, worunter auch die Meinungsfreiheit fällt.
Bevor wir jetzt klären, wer die Meinungsfreiheit in Deutschland eigentlich bedroht und warum er oder sie das tut, befassen wir uns kurz mit dem Economist. Den kennt hier nämlich nicht jeder, obwohl er im Rest der Welt in einer bestimmten Personenschicht richtig berühmt ist und fast schon täglich gelesen wird.
Der Economist ist ein Printmagazin – wie der Spiegel. Aber da hört der Vergleich auch schon auf. Während der 1947 gegründete Spiegel 78 Jahre alt ist, gibt es den Economist bereits seit 1843, was ihn 182 Jahre alt macht. Und während beim Spiegel eine Ansammlung verbitterter Zyniker jeden Tag ihrem Gram darüber, dass die ökosozialistische Weltrevolution einfach nicht ausbrechen mag, Luft macht, befassen sich beim Economist studierte Ökonomen, Politik- und Sozialwissenschaftler mit den Themen, die sie studiert haben – eben Politik, Wirtschaft, Technik (und ein bisschen Kultur).
Das muss der Grund sein, warum der Economist das ist, was der Spiegel gerne wäre: nämlich erfolgreich, weitverbreitet, von hochrangigen Entscheidungsträgern gelesen und weltweit ernst genommen. Während der Spiegel grünen Lehrern, pensionierten Beamten und frustrierten Sozialarbeitern als tröstender Almanach in einer feindlichen Welt dient, lesen den Economist Führungskräfte, Berater, Politiker, Diplomaten, Akademiker, Investoren, Juristen und Unternehmer, die sich über internationale wirtschaftliche und politische Entwicklungen kompetent informieren wollen.
Der Economist ist das, was der Spiegel gerne wäre: nämlich erfolgreich, weitverbreitet, von hochrangigen Entscheidungsträgern gelesen und weltweit ernst genommen.
Diese Unterschiede bei den Inhalten und der Leserschaft schlagen sich bei beiden Magazinen in den Zahlen nieder: 2024 kam der Economist auf über 1,2 Millionen Abonnenten, 426 Millionen Euro Umsatz und 55 Millionen Euro Gewinn, während der Spiegel mit rund 670.000 verkauften Exemplaren, 246 Millionen Euro Umsatz und 24 Millionen Euro Gewinn deutlich zurückblieb.
Natürlich ist in den letzten 15 Jahren auch die Redaktion des Economist „woker“ geworden. Das Magazin gab seitdem Wahlempfehlungen für Obama, Clinton, Biden und sogar Harris ab, bekämpfte leidenschaftlich den Brexit, behandelt Gender- und Diversity-Themen prominent und befürwortet staatliche Eingriffe in der Klimapolitik – ein klarer Bruch mit dem früheren wirtschaftsliberalen Pragmatismus. Und auch beim Economist schießt man mitunter kapitale Böcke: Die Redaktion hat eine unerklärliche Sympathie für die chinesische Planwirtschaft und ihren Immobilienwahn, hat jahrelang fröhlich angenommen, der erfolglose japanische Premierminister Shinzō Abe würde sein Land wieder in eine moderne Wirtschaftsmacht verwandeln – und prognostiziert seit Jahrzehnten unverdrossen, die bürokratische und halbsozialistische indische Wirtschaft würde bald abheben wie diejenige Chinas.
Der Economist hegt eine unerklärliche Sympathie für die chinesische Planwirtschaft und ihren Immobilienwahn.
Aber diese für Abonnenten (wie mich) mitunter frustrierenden Aussetzer stellen die Qualität des Economist grundsätzlich nicht in Frage. Und auch nicht seine britische Fairness. Denn die Redaktion des Economist besteht nicht – wie inzwischen so viele Medienredaktionen auf der Welt – aus einem Haufen Aktivisten, die nicht berichten, analysieren und kommentieren, sondern verändern wollen, sondern sie möchte in der Tat analysieren und informieren. Der Economist war fast schon das einzige Mainstream-Magazin (oder Zeitung) auf der Welt, das sich traute zu schreiben: Why Marine Le Pen should be allowed to run for president („Warum es Marine Le Pen erlaubt sein sollte, zur Präsidentenwahl anzutreten“).
Der Economist scheute sich nicht zu schreiben, warum Marine Le Pen Präsidentin sein sollte.
Und der Economist ist auch eine der ganz wenigen seriösen Publikationen auf der Welt, der aufgefallen ist, dass im Staate Deutschland etwas faul ist. Und zwar mit der Meinungsfreiheit. Der Economist hat gemerkt, dass die deutsche Politik unter Mitarbeit willfähriger Justizbehörden Recht und Gesetz zunehmend dazu einsetzt, politisch unbequeme Meinungsäußerungen pauschal unter Strafe zu stellen. Das geschieht mit empfindlichen Strafen, die von hohen Geldstrafen bis zu Gefängnisaufenthalten reichen, das geschieht gerne auch mit für die Nachbarn gut sichtbaren Hausdurchsuchungen im Morgengrauen, bei denen dann Handys, Computer und Laptops beschlagnahmt werden.
In einem schneidenden Artikel brandmarkt das britische Magazin den Eifer deutscher Staatsanwälte, die argumentieren, dass Verleumdung, wie immer man diese auch definiert, Politiker an der Ausübung ihrer Amtspflichten hindern könne. Da sei es natürlich kein Wunder, schreibt der Economist, dass es zu Überspitzungen („overreach“) gekommen sei – und das ist noch milde ausgedrückt. Die Briten berufen sich in ihrer Einschätzung insbesondere auf ein drakonisches Urteil gegen den Journalisten David Bendels, der ein Bild der Innenministerin Faeser satirisch abänderte und veröffentlichte – obwohl es solche Bilder im Internet gäbe wie Sand am Meer („a dime a dozen“). Der Economist registriert auch die vielen persönlichen Anzeigen des scheidenden Wirtschaftsministers Habeck wegen vermeintlicher Beleidigungen – selbst in Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft bereits von sich aus tätig geworden war.
Der Economist registriert auch die vielen persönlichen Anzeigen des scheidenden Wirtschaftsministers Habeck. Das Schwachkopf Meme mochte er gar nicht.
Dies alles bietet ein niederschmetterndes Bild der deutschen Meinungs- und Pressefreiheit – ein Bild, das inzwischen so auch von der Bevölkerung wahrgenommen wird. Laut einer Allensbach-Studie aus dem Jahr 2024 sagen inzwischen 40 Prozent der Deutschen, sie könnten ihre Meinung nicht mehr frei sagen, während dieser Wert 1990 noch bei 20 Prozent gelegen hatte.
Der Economist erinnert zu Recht an die Rede des amerikanischen Vizepräsidenten JD Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz, als dieser festgestellt hatte: Die größte Gefahr für die europäische Demokratie geht nicht von außen, sondern von innen aus – vom Rückzug Europas „von seinen grundlegendsten Werten“. Vance warf den Regierungen der EU-Länder vor, unter Schlagwörtern wie „Desinformation“ und „Hassrede“ oppositionelle Meinungen zu unterdrücken, was er mit Methoden der Sowjetzeit verglich.
Das Erstaunlichste aber an dem hier referierten Artikel im Economist, der vermutlich von Tom Nuttall, dem Deutschland-Chef des Magazins, stammt, ist nicht seine journalistische Brillanz, denn sonderlich brillant ist der Beitrag nicht – nein, erstaunlich ist die Tatsache, dass ein britisches Magazin den Deutschen vor den Augen der ganzen Welt sagen muss: Bei euch ist die Meinungsfreiheit inzwischen bedroht.
Es ist so traurig wie wahr: Journalisten und Politiker aus dem Ausland müssen die Deutschen darauf aufmerksam machen, dass Meinungs- und Pressefreiheit – zwei der wichtigsten Freiheitsrechte überhaupt – bei ihnen durch eine Kabale aus Politik, Judikative und Exekutive ernsthaft in Gefahr sind.
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