
Die schwarz-rote Regierung steht gleich in mehreren Interessenkonflikten. Der größte: Einerseits wollen Friedrich Merz (CDU) und sein Team schon in den ersten 100 Tagen Ergebnisse vorlegen, um aus der allgemein schlechten Laune in Deutschland eine Aufbruchstimmung zu machen. Andererseits stehen all ihre Projekte unter “Finanzierungsvorbehalt”. Solange der Bundestag keinen Haushalt für dieses Jahr beschlossen hat, solange können sich der Kanzler und seine Minister nur mit Tralala beschäftigen: wie dem Bratwurst-Verbot bei Fußballspielen, wenn es draußen zu heiß ist.
Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) will den Entwurf für den Haushalt noch diesen Juni im Kabinett vorstellen. Merz und seine Minister tagen immer mittwochs. Das heißt, der SPD-Chef hat noch zwei Gelegenheiten, um sein Versprechen einzuhalten. Doch an diesem Mittwoch wird das wohl nichts. Denn Klingbeil hat Druck aus den eigenen Reihen bekommen: die Ministerpräsidenten, auch die sozialdemokratischen, wollen in der Mehrheit zwar dem “Investitionsbooster” der Bundesregierung zustimmen. Doch nur, wenn der Bund die Kosten ausgleicht. Für diesen Mittwoch rechnet Klingbeil laut der französischen Nachrichtenagentur AFP noch nicht mit einer Einigung.
Der Bundesrat hat eine Stellungnahme beschlossen. Demnach begrüßt die Länderkammer zwar das Ziel des Bundes, “Wachstumsimpulse setzen” zu wollen. Allerdings rechnen die Länder in der Folge mit einem Ausfall von 30 Milliarden Euro in den nächsten fünf Jahren. Dieses Geld würde ihnen und den Kommunen fehlen. Deswegen fordert der Bundesrat einen Ausgleich für diesen Ausfall, der vor allem durch bessere Möglichkeiten für Unternehmen entsteht, die Kosten für eigene Investitionen abzusetzen.
Die Stellungnahme an sich hat faktisch noch nichts zu bedeuten. Der “Investitionsbooster” ist noch nicht in dritter und abschließender Lesung durch den Bundestag gegangen. Erst danach entscheidet die Länderkammer Bundesrat offiziell darüber. Nur ist die Stellungnahme eine Gelbe Karte. Damit sagen die Ministerpräsidenten der Bundesregierung, dass sie Stand jetzt nicht zustimmen würden. 15 christ- und sozialdemokratische Ministerpräsidenten müssten also das zentrale Projekt in der Frühphase der christ- und sozialdemokratischen Bundesregierung verhindern. Ein GAU. Aufbruchstimmung geht anders.
Diesen GAU werden Merz und Klingbeil abwenden. Doch damit bringen sich die beiden Kanzler in den nächsten Interessenkonflikt. Das nationale Recht steht den beiden beim ungebremsten Schuldenmachen nicht mehr im Weg. Dafür haben CDU, CSU, SPD, Grüne und Linke mit dem Aufweichen der “Schuldenbremse” gesorgt. Aber es gibt auch noch das EU-Recht. Demnach dürfen sich die Mitgliedsstaaten insgesamt nur mit bis zu 60 Prozent ihres Bruttoinlandproduktes verschulden. Eine Grenze, die Deutschland jetzt schon überschreitet.
Einerseits ist das kein Problem. Die EU erlaubt ihren Mitgliedsstaaten durchaus eine Überschuldung, wenn diese in der Folge des Ukraine-Krieges geschieht. Klingbeil muss also nur genug Posten als Verteidigungsausgaben deklarieren, um eine Überschuldung zu rechtfertigen. Dabei muss er nicht einmal glaubwürdig wirken: Deutschland ist mit Abstand der größte Netto-Zahler der EU. Wenn Merz und Klingbeil in Brüssel den Schuldenwalzer bestellen, greifen die EU-Bürokraten zu den Instrumenten.
Andererseits ist die sich anbahnende Überschuldung Deutschlands eben doch ein Problem. Ein strukturelles. Die gesamte Verschuldung aller EU-Staaten nimmt bedrohliche Ausmaße an. Wenn Deutschland für sich Ausnahmen durchboxt, werden bereits überschuldete Staaten wie Griechenland, Portugal oder Frankreich sich nur noch schwer bremsen lassen. Dann geht die EU auf wackligen Beinen in die nächste Finanzkrise. Wie schnell das zu dramatischen Folgen führen kann, hat sich in der letzten weltweiten Finanzkrise gezeigt.
Derzeit sprechen sich Merz und Klingbeil Mut zu: Der Booster werde die Wirtschaft bald ankurbeln, dann sprudeln die Einnahmen und alles wird gut. Doch die deutsche Überschuldung dürfte sich verfestigen. Das fängt mit dem Bruttoinlandprodukt an. In den letzten zwei Jahren ist das zurückgegangen, für dieses Jahr rechnet das Wirtschaftsministerium mit einer Stagnation. Wobei das Ministerium in den letzten Jahren all seine Prognosen nach unten korrigieren musste. Was bedeutet, dass voraussichtlich die Deutsche Industrie- und Handelskammer recht behält. Die rechnet für dieses Jahr mit einem erneuten Schrumpfen des Bruttoinlandproduktes um weitere 0,5 Prozent. Sinkt das Bruttoinlandprodukt, geht automatisch der Schuldenanteil nach oben. Mathematik ist gnadenlos.
Doch dabei bleibt es nicht. Die Sozialdemokraten schließen sich nun dem Ziel an, die Verteidigungsausgaben auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes zu erhöhen. Das sagte Klingbeil auf einer Veranstaltung der Rheinischen Post. Er wolle sich dem anpassen, was die Nato auf ihrem Gipfel fordert. Von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist der Plan bekannt, die bisherige Höhe in Schritten von 0,2 Prozentpunkten zu erhöhen, sodass Deutschland in sieben Jahren die 3,5 Prozent erreicht hätte.
Für dieses Jahr hat Klingbeil noch keinen Entwurf. Noch keinen eigenen Entwurf. In dem seines Vorgängers, Christian Lindner (FDP), sind etwa 52 Milliarden Euro für die Verteidigung vorgesehen. Das bisherige Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes, erreicht der Bund nur durch die Schulden aus dem “Sondervermögen”. Will der Bund 3,5 Prozent erreichen, dann müssten die reinen Ausgaben für die Verteidigung auf abgerundet 135 Milliarden Euro steigen. Ein Zuwachs um über 80 Milliarden Euro in einem Haushalt, der Stand jetzt ein Gesamtvolumen von 470 Milliarden Euro aufweist. “Whatever it takes”, sagt der Kanzler aus dem Sauerland. Datt takes awwer so einiges, mag der Rheinländer antworten.
Dabei bleibt es nicht. Der “Investitionsbooster” ist eines der Investitionspakete, wie es typisch für die Zeit von Olaf Scholz als Finanzminister und Kanzler war. Diese kurbeln die Wirtschaft an und die brummt danach von ganz allein. So lautete das Versprechen bei den bisherigen Paketen. Das Ergebnis ist bekannt. So lautet auch dieses Mal das Versprechen des Finanzministers Klingbeil. Weil der Bund Unternehmen E-Autos zu 90 Prozent finanziert, bricht in Deutschland das “grüne Wirtschaftswunder” aus. So wie es bereits Scholz prophezeit hat – nur dieses Mal wirklich.
Wunder gehören ins Gotteshaus. In der Finanzpolitik zählen Zahlen. Diese sagen, dass die deutschen Unternehmen unter einer Rekordlast an Steuern und Abgaben leiden. Die Sozialversicherung hat faktisch die magische Grenze von 42 Prozent des durchschnittlichen Bruttolohnes bereits durchbrochen. Und Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung melden Defizite. Das künstliche Sichern des Rentenniveaus wird in der Rentenversicherung für weitere Erhöhungen um rund drei Prozentpunkte sorgen. Eigentlich haben CDU, CSU und SPD versprochen die Wirtschaft zu entlasten – Aufbruchstimmung und so – doch faktisch haben sich die Lohnnebenkosten auf den Weg in Richtung 50 Prozent gemacht. Wer dann noch an ein “grünes Wirtschaftswunder” glaubt, der tanzt auch in der Nacht zum 1. Mai auf dem Brocken um ein Lagerfeuer.
Die Krankenhäuser brauchen Direkthilfen von 4 Milliarden Euro. Die hat Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) bereits versprochen. Die gesetzliche Krankenversicherung fordert den Bund auf, die Kosten für die Versorgung der Empfänger von Bürgergeld voll zu übernehmen. Das bedeutet weitere jährliche Kosten von zehn Milliarden Euro. Die Pflegeversicherung meldet – trotz zweier Erhöhungen unter Karl Lauterbach (SPD) – immer noch ein monatliches Defizit von über 50 Millionen Euro.
All das muss Klingbeil in seinem Haushalt unterbringen. Der Finanzminister wird es kaum schaffen, diese Kosten schön zu rechnen. Eine strukturelle Entlastung der Wirtschaft, wie es unter anderem die internationale Vereinigung für wirtschaftliche Zusammenarbeit, OECD, fordert, dürfte der Sozialdemokrat da kaum hinbekommen. Bleibt die Hoffnung auf die Wunderkraft einmaliger Investitionspakete. Gebete wären aussichtsreicher. Die Mathematik ist trostloser.
Klingbeil wird also Deutschland weit über die von der EU vorgegebenen Grenzen hinaus verschulden. Dabei muss er die diversen Posten als Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit tarnen, um bestehende Regeln und Gesetze umgehen zu können. Um die “Aufbruchsstimmung” in der Öffentlichkeit nicht zu gefährden, muss der SPD-Chef sich hübsche Schlagwörter ausdenken wie “Booster”, “Sondervermögen” oder irgendwas mit “Turbo”, was die Politik derzeit als Begriff auch gerne nimmt. Nur am Ende stehen unter dem Schritt trotzdem neue Schulden. Die führen zu erhöhten Zinszahlungen. Die muss Klingbeil dann in den nächsten Haushalten ebenfalls noch unterbringen. Mathematik kann echt gemein sein.