
Im Frühjahr 2025 versuchte eine fraktionsübergreifende Gruppe von Parlamentariern der SPD, der Grünen und der Linkspartei, im Hauruckverfahren die Legalisierung von Abtreibung durchzusetzen. Sie wollten die Gesellschaft noch vor den Neuwahlen vor vollendete Tatsachen stellen – bevor neue Mehrheiten die Umsetzung dieses Vorhabens erschweren würden.
Bei der diesbezüglich anberaumten öffentlichen Anhörung vor dem Rechtsausschuss im Februar 2025 äußerte sich auch Frauke Brosius-Gersdorf, die als Sachverständige geladen war.
Das zeigt sich auch in ihren Ansichten zum Paragrafen §218 StGB, die mit ihrer Nominierung nun wieder eine breitere Öffentlichtkeit erfahren. Brosius-Gersdorf gehört zu jenen Experten, die sich besonders scharf dafür einsetzen, Abtreibung aus dem Strafrecht herauszulösen und für rechtmäßig zu erklären. Doch damit nicht genug:
Die Professorin behauptete während der Anhörung im Februar 2025, dass aus dem Persönlichkeitsrecht der Frau gar ein „Recht auf Abtreibung in den ersten Wochen der Schwangerschaft“ folge.
Damit bewegt sie sich nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes, das sie als Verfassungsrichterin zu schützen hätte. Denn ein Recht auf Abtreibung bedeutet das Recht auf die Tötung eines Menschen – ob dieser ungeboren oder geboren ist, ist erst einmal unerheblich.
Die gegenwärtige Regelung sieht Abtreibung als eine Art „unvermeidbares“ Übel: Zwar will der Gesetzgeber Frauen zugestehen, sich dafür entscheiden zu können. Er erkennt aber an, dass er diese Tat nicht für rechtmäßig erklären kann – und schon gar nicht kann er das Unrecht, nämlich die Tötung, zum Recht erklären.
Wer ein Recht auf Abtreibung formuliert, knüpft das Recht auf Leben an – willkürlich ausgewählte – Bedingungen. Die Größe des Kindes, bestimmte Organfunktionen, die Wahrscheinlichkeit, mit der das Kind außerhalb des Mutterleibs am Leben erhalten werden könnte, oder auch einfach, ob die Mutter das Kind „will“, würden damit zum bestimmenden Parameter dafür, ob ein Mensch schutzwürdig wäre oder nicht.
Dies stellt einen Zivilisationsbruch und einen Rückschritt dar, den die deutschen Gesetzgeber eingedenk der Verantwortung angesichts der deutschen Geschichte zu verhindern suchten. Was Abtreibung betrifft, wurde demenstprechend eine Regelung konstruiert, die Frauen praktisch die Möglichkeit eröffnet, abzutreiben, während wenigstens theoretisch daran festgehalten wird, dass Menschenwürde und Lebensrecht jedem Menschen bedingungslos zustehen.
Man kann dies als Kompromiss oder als scheinheilig betrachten – zumindest verschleiert diese Regelung zwei schmerzhafte Wahrheiten nicht: Bei jeder Abtreibung stirbt ein Mensch; und die Gesellschaft ist zu unsolidarisch und egoistisch, um jedem dieser Menschen das Leben zu gönnen.
Vielsagend ist, dass Brosius-Gersdorf in ihrer Stellungnahme vor allem darauf abhob, dass der Gesetzgeber nicht an vergangene Urteile des Bundesverfassungsgerichts gebunden sei. Bei einer erneuten Überprüfung könne das Gericht anders entscheiden: Die bisherigen Urteile dazu seien in der Rechtswissenschaft auf „breite Kritik“ gestoßen, der „rechtswissenschaftliche Diskussionsstand“ habe sich „in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt“, ebenso „der völkerrechtliche Rahmen.“ Zuletzt sei im „Rechtsvergleich ein Trend zur Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs zu beobachten“. Letzteres ist Augenwischerei: Schlechte Gesetze sind und bleiben schlechte Gesetze. Ihre Existenz legt keinesfalls nahe, dass sich Deutschland an sinkende ethische Standards anderswo anzupassen habe.
Sollte Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin gewählt werden, besteht also kein Zweifel, dass sie zu einer anderen Bewertung käme als ihre Vorgänger. Sie will das Problem, dass bei Abtreibung Rechte zweier Menschen gegeneinander abgewogen werden, dadurch lösen, dass der eine für rechtlos erklärt wird.
Dies wird auch aus dem Bericht ersichtlich, den sie als Mitglied der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin mitverantwortet. Darin bezeichnet Brosius-Gersdorf als „fraglich“, ob dem ungeborenen Kind „der Schutz der Menschenwürdegarantie“ zukomme.
„Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt. (…) Bei einem Konzept des pränatal gestuften oder kontinuierlich anwachsenden Lebensschutzes nimmt die Schutzintensität des Lebensrechts mit fortschreitender embryonaler/fetaler Entwicklung (…) zu“. Sätze, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen sollten: Besäße der Mensch eine Sekunde vor der Geburt keine Menschenwürde, wohl aber eine Sekunde danach?
Dies widerspricht der Aussage des Grundgesetzes, dass die Würde des Menschen unantastbar sei, diametral. Der Ausdruck besagt ja gerade, dass sie dem Zugriff des Menschen entzogen ist. Laut Brosius-Gersdorf jedoch sollen Menschen die Verfügungsgewalt über die Menschenwürde an sich reißen, und darüber entscheiden, wem sie zuerkannt wird. Damit ist die Menschenwürde antastbar, das Grundgesetz ausgehebelt.
Brosius-Gersdorf macht nicht den geringsten Hehl daraus, dass sie die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes nicht so auffasst, wie es von seinen Urhebern intendiert wurde. Man könnte auch sagen: Sie lehnt die Verfassung an dieser Stelle ab.
Während Medizin und Biologie die Embryonalentwicklung immer genauer nachzeichnen, und so die Menschenwürde, die dem ungeborenen Kind zukommt, auf naturwissenschaftlicher Ebene immer nachvollziehbarer erscheinen lassen – weshalb Abtreibungsbefürworter das Thema in ihrer Argumentation zunehmend auf die Frage nach Selbstbestimmung verkürzen –, geht Brosius-Gersdorf den umgekehrten Weg: Für sie ist die besondere Schutzbedürftigkeit des Kindes, seine „existenzielle Abhängigkeit (…) vom Körper der Schwangeren“ nicht etwa ein Grund, es besonders zu schützen, sondern ein Grund, seine Schutzwürdigkeit herabzustufen.
Diese Herangehensweise entspricht jüngeren legislativen Totalausfällen wie dem Selbstbestimmungsgesetz: Auch dieses konstruiert eine juristische Wirklichkeit, die der Realität nicht nur nicht entspricht, sondern ihr widerspricht. Ein solches technokratisches, von der Realität abgekoppeltes Rechtsverständnis ist – abseits jeder juristischen Bewertung des Sachverhalts – überdies herzlos und unmenschlich: Dass es juristische Kategorien braucht, die nicht immer dem allgemeinen Empfinden oder Gerechtigkeitssinn entsprechen, ist unbestritten. Recht muss sich aber weiterhin an übergeordneten Maßstäben messen lassen, anstreben, der Wirklichkeit zu entsprechen und in angemessenem Austausch zu anderen Disziplinen bleiben.
Eine vollkommen in Positivismus und Utilitarismus abgleitende Justiz, die jeden Kontakt zur Realität verloren hat, ist eine ernste Bedrohung, nicht nur für die demokratische Grundordnung, sondern, wie man an diesem Beispiel ablesen kann, für zivilisatorische Selbstverständlichkeiten wie jene, dass man einen hilflosen Menschen nicht töten darf, weil er hilflos ist.
Frauke Brosius-Gersdorf ist zugute zu halten, dass sie diese Einstellung nicht versteckt, sondern ganz offen formuliert: Jeder weiß, wer hier zur Wahl aufgestellt wurde. Ihre am Sinn der Verfassung desinteressierte Haltung in Bezug auf Menschenwürde und Abtreibung ist nur eines von vielen deutlichen Warnzeichen: Eine solche Frau darf nicht in eine Position gehievt werden, in der sie für die Wahrung des Grundgesetzes verantwortlich ist.