
Häufig ist in diesen Tagen zu lesen: Die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag besitze aufgrund ihres guten Abschneidens bei der Bundestagswahl ein „Vorschlagsrecht“ für den Vorsitz in sechs Bundestagsausschüssen, angefangen mit dem Haushaltsausschuss, dessen Vorsitzender traditionell die stärkste Oppositionsfraktion stellt. Aber die Vorgeschlagenen müssten dann auch noch von den Mitgliedern des Ausschusses gewählt werden, und Angehörige der AfD-Fraktion würden von den Mitgliedern der übrigen Fraktionen eben ohne Ansehen der Person im Prinzip nicht gewählt! Irgendwie schon unfair, aber man brauche eben eine Mehrheit.
Nun nehme ich das den Journalisten nicht übel, sie versuchen in der Tat nur zu beschreiben, wie die Lage sich hier und heute faktisch darstellt, und müssen ihren Lesern erklären, was im Bundestag eben passiert. Dennoch ärgere ich mich als Fachmann für Verfassungsrecht jedes Mal! Weil ich nämlich denke: Aber das stimmt doch eigentlich gar nicht, eigentlich und von Rechts wegen ist es doch ganz anders! Oder müsste es jedenfalls anders sein.
Das Recht der Parlamentsfraktionen im Deutschen Bundestag, eine bestimmte Anzahl von Ausschussvorsitzen zu besetzen, und die Reihenfolge des Zugriffs – man kann nach einer 70-jährigen Staatspraxis zwischen 1949 und der „Abwahl“ Stephan Brandners als Vorsitzender des Rechtsausschusses 2019 wohl von „Verfassungsgewohnheitsrecht“ sprechen – ist nämlich die unmittelbare Folge des Ergebnisses der Bundestagswahl.
Die Legitimität eines Ausschussvorsitzenden kommt nicht daher, dass 20 andere Bundestagsabgeordnete, die eben von ihren Fraktionen in einen bestimmten Ausschuss entsandt worden sind, ihn dann zum Vorsitzenden „gewählt“ haben, sondern sie kommt von dem Wahlergebnis seiner Partei her. Millionen von Wählern haben die AfD-Fraktion im Bundestag dazu ermächtigt, in sechs Ausschüssen, angefangen mit dem zentral wichtigen Haushaltsausschuss, den Vorsitzenden auszusuchen. Es hat daher gerade nichts mit „Demokratie“ zu tun, wenn 20 zufällig zusammengewürfelte Bundestagsabgeordnete – wie es erst seit der 20. Legislaturperiode, also seit 2021, praktiziert wird – im Hinblick auf den Ausschussvorsitz das Ergebnis der letzten Bundestagswahl „korrigieren“ können!
Die Arbeit im Bundestag findet meist nicht im Plenum, sondern in den Ausschüssen statt.
Traditionell, das heißt zwischen 1949 und 2017, wurden Ausschussvorsitzende gar nicht „gewählt“. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages regelt daher bis heute: „Die Ausschüsse bestimmen [nicht: wählen!] ihre Vorsitzenden“, und zwar „nach den Vereinbarungen im Ältestenrat“ (§ 58). Schon deshalb könnte es keine „freie Wahl“ geben, sondern es wird nur eine vorherige „Vereinbarung“ umgesetzt. Und diese „Vereinbarung im Ältestenrat“ ist ihrerseits nicht inhaltlich frei ausgestaltbar, weil § 12 Satz 1 der Geschäftsordnung insofern regelt: „Die Zusammensetzung des Ältestenrates und der Ausschüsse sowie die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen ist im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen.“
Anders kann es eben auch nicht sein, weil die Präsenz einer Fraktion in Ausschüssen und die Auswahl der Ausschussvorsitzenden letztlich durch das Ergebnis der Bundestagswahl determiniert wird. Macht der Wähler die AfD zur stärksten Oppositionsfraktion (wie geschehen), so lässt sich sagen, dass der Wähler damit selbst bestimmt hat, dass die AfD-Fraktion auch den Vorsitzenden im Haushaltsausschuss stellt. Denn dass der stärksten Oppositionsfraktion der Vorsitz im Haushaltsausschuss zukommt, entspricht der ständigen Verfassungstradition seit 1949. Was die Vorsitze sonstiger Ausschüsse angeht, also ob die AfD lieber den Vorsitz im Innen- oder im Auswärtigen Ausschuss haben will, ob im Rechtsausschuss oder lieber im Petitionsausschuss, so hat der Wähler bei der Bundestagswahl dies selbstverständlich nicht selbst entscheiden können, aber er hat die AfD-Fraktion eben kraft ihrer Stärke, kraft des Wahlergebnisses der Partei mit entsprechenden Zugriffsrechten ausgestattet. Im Fall des Haushaltsausschusses hat der Wähler also gewissermaßen wirklich gewählt, im Übrigen hat er indirekt ermächtigt.
Daher wurden Ausschussvorsitzende jahrzehntelang gar nicht gewählt; es gab nur in der ersten Ausschusssitzung eine Art Akklamation des Vorsitzenden durch die Mitglieder, meist ein beifälliges Gemurmel, das aber lediglich eine kollegiale Höflichkeitsgeste war. Niemand kam auf den Gedanken, die höfliche Bestätigung des von einer Fraktion aufgestellten Vorsitzenden für „konstitutiv“ zu halten oder zu glauben, den Vorsitzenden auch wieder „abwählen“ zu können. Denn dies wäre eben ein „Veto“ gegen das Ergebnis der Bundestagswahl, das den Bundestagsabgeordneten nicht zusteht. Richtig ist, dass dann bereits 2017, mit dem erstmaligen Auftreten der AfD im Bundestag, ein „Wahlverfahren“ eingeführt wurde, bei dem also auch die Hände gehoben und nicht nur akklamatorisch gemurmelt wurde.
Ein leerer Ausschusssaal
Die AfD war 2017 drittstärkste Fraktion, aber wegen der „großen Koalition“ gleich stärkste Oppositionsfraktion. Zunächst wurde aber auch dieser „Wahlakt“ von den übrigen Fraktionen noch überwiegend als symbolische Handlung begriffen; Peter Boehringer, Stephan Brandner und Sebastian Münzenmaier wurden im Ergebnis zu Vorsitzenden des Haushalts-, Rechts- bzw. Tourismusausschusses „gewählt“. Vermutlich hatte man große Zweifel, ob eine „Nichtwahl“ überhaupt zulässig gewesen wäre, und fürchtete ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts. Erst die „Abwahl“ Stephan Brandners 2019 änderte die Spielregeln. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht sowohl die Möglichkeit der Abwahl als auch die Abhängigkeit des Vorsitzenden von einer Wahl durch die Mitglieder des Ausschusses gebilligt. Fachleute hat das eher überrascht.
Der AfD-Haushaltspolitiker Peter Boehringer
Seit 2021 wird nun eigentlich das System praktiziert, nach dem die Fraktionen kraft ihres Wahlergebnisses nur ein „Vorschlagsrecht“ haben sollen und die Wahl des Vorsitzenden durch die zufällig zusammengewürfelten Mitglieder eines Ausschusses als konstitutiv gilt. Diese Staatspraxis ist insofern nicht mehr die Demokratie des Grundgesetzes, sondern etwas anderes, eine Art gelenkte oder beaufsichtigte Demokratie. Dies zeigt schon folgende Überlegung:
Im System des Grundgesetzes müssen der Bundeskanzler und die Bundesregierung eine Mehrheit im Bundestag haben, denn der Bundestag hat den Bundeskanzler gewählt und kann ihn auch wieder abwählen oder ihm das Misstrauen aussprechen. Das bedeutet: Die politische Grundausrichtung von Regierung und Bundestagsmehrheit ist denknotwendig dieselbe. Insofern gibt es unter dem GG auch keine „reine“ Gewaltenteilung, sondern eher eine Art „Gewaltenverschränkung“; entscheidend ist nicht der Gegensatz zwischen Parlament und Regierung, sondern der zwischen Regierung und Opposition. Gerade daraus folgt aber, dass die Opposition im Parlament eigene Rechte haben muss, die von der Mehrheit und ihrer Zustimmung völlig unabhängig sind. Im nun praktizierten System bräuchte das Regierungslager offenbar keinen einzigen Ausschussvorsitzenden der Opposition zu akzeptieren; und jeder dennoch amtierende Ausschussvorsitzende, dessen Partei nicht in der Regierung sitzt, ist nur von Gnaden der Regierung Ausschussvorsitzender und könnte vom Regierungslager auch jederzeit wieder abgewählt werden.
Kommt es aber auf die Mehrheit unter den Abgeordnetenkollegen an und nicht mehr auf das Ergebnis der Bundestagswahl selbst, dann wird ein Abgeordneter oder auch eine ganze Fraktion nicht mehr durch das Wahlergebnis und mithin durch das Volk legitimiert, sondern durch ihre Akzeptanz bei den übrigen Abgeordneten. Aus dem Wahlrecht des Volkes wird dann tendenziell ein Selbstergänzungsrecht der Eliten im Bundestag, die Wahl selbst wird dann mehr und mehr zu einer Art Vorschlagsrecht des Volkes, den Parteienvertreter auch (teilweise) zurückweisen können. Und wenn schon die Ausschussvorsitzenden erst einmal durch ihre Kollegen „gewählt“ werden müssen, warum nicht gleich auch die einfachen Mitglieder des Ausschusses? Dann könnte in jedem Ausschuss die Mehrheit auch sagen: „Wir akzeptieren in unserem Ausschuss keine AfD-Abgeordneten und möchten nicht mit ihnen zusammenarbeiten.“ (In besonderen Gremien, etwa der parlamentarischen Kontrollkommission für die Geheimdienste, wird das schon heute so praktiziert!). Und warum dürfen AfD-Vertreter im Bundestag überhaupt noch Reden halten, wenn die klare Mehrheit diese nicht hören will?
„Der Verfassungsschutz hat schon Recht!“, sagt in einem unlängst bekanntgewordenen peinlichen Propaganda-Video des niedersächsischen Verfassungsschutzes „das Grundgesetz“, das dort etwas unbegreiflicherweise von einer übergewichtigen, selbstgefälligen jungen Frau dargestellt wird, die unter Anleitung einer Polizeibeamtin (!) übt, wie man anderen Personen mit dem Fuß gegen den Kopf tritt – was offenbar die „wehrhafte Demokratie“ veranschaulichen soll. Wie dem auch sei, der Verfassungsschutz hat offenbar wirklich Recht. Es gibt in Deutschland machtvolle Strömungen, die offenbar die Demokratie des Grundgesetzes teilweise überwinden und durch ein ganz anderes System ersetzen wollen. Es ist nur nicht die AfD.
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