
„Jetzt noch kurz vor Toresschluss der bestehenden Koalition das Grundgesetz zu ändern und die Schuldenbremse aufzuheben, das werde seine Partei nicht machen.“ Friedrich Merz im Deutschlandfunk am 27.11.2024
Wer in der freien Wirtschaft in verantwortlicher Position Verträge aushandelt, verinnerlicht nach einiger Zeit die beiden goldenen Regeln der Verhandlungspraxis: Erstens, sich nie unter Zeitdruck setzen zu lassen. Zweitens, sich nie in eine Situation zu bringen, in der man keine Alternative hat. Und wenn man sie nicht hat, zumindest nie den Eindruck zu erwecken, man habe keine.
Gegen beide Regeln hat Friedrich Merz in geradezu stümperhafter Weise verstoßen. Merz hat nach langer Zeit in der Politik ausschließlich Mandate in Aufsichtsräten, Beiräten und Verwaltungsräten übernommen, aber nie wirklich operativ gearbeitet. Ob diese mangelnde Erfahrung ausreicht, um seine Fehler zu rechtfertigen, sei dahingestellt. Zunächst schloss er eine Koalition mit der AfD kategorisch und ostinat aus. Klüger wäre es gewesen, eine solche Zusammenarbeit nicht von vornherein grundsätzlich auszuschließen, sondern an harte, faktisch womöglich unerfüllbare, Bedingungen zu knüpfen.
Die Igel sind in diesem Fall die Verhandlungsführer von SPD und Grünen. Im Gegensatz zu Merz sind sie gewiefte Taktiker, denen es seit Jahren mühelos gelingt, mit einer ausgeklügelten Brandmauerstrategie und einem ausgefeilten System von abhängigen NGOs und anderen politischen Vorfeldinstitutionen dieses Land ohne Mehrheiten zu beherrschen. Bei jedem Verhandlungsschritt musste er das zuvor Erreichte gegen eine noch schlechtere Kompromissposition eintauschen (um ein wenig im Bild des Märchens zu bleiben), bis am Ende von seinen Überzeugungen nichts mehr übrig war. Merz und seine Union scheinen wirklich alles zu tun, um diese Kanzlerschaft zu ermöglichen. Schließlich wurde sogar erwogen, die Freien Wähler in Bayern aus der Koalition zu werfen, um die knappe Mehrheit im Bundesrat zu sichern.
Sie haben viel erreicht, die Grünen: 100 Milliarden für Klimaziele, aber vor allem die Verankerung der „Klimaneutralität“ bis zum Jahr 2045 im Grundgesetz. Eine echte Giftpille, weil sie einen potenziellen Anknüpfungspunkt für diverse Klagen bietet – und die NGOs beherrschen dieses Instrumentarium mittlerweile perfekt. Inzwischen ist unter Juristen (und Nicht-Juristen) eine lebhafte Diskussion über diese These entbrannt. Die Beschwichtiger weisen darauf hin, dass es sich ja lediglich um eine Konkretisierung der Zweckbestimmung des Klimafonds handele.
Dass diese Zweckbestimmung mit einem konkreten Zeitrahmen versehen ist, sollte allerdings stutzig machen. Man könnte übrigens auch einwenden, dass das Gesetz nicht den konkreten Weg vorgibt, wie die „Klimaneutralität“ erreicht werden soll. Merz und die CDU könnten also dafür auch ein Dutzend Atomkraftwerke bauen. Das werden sie natürlich nicht tun, schon um die Grünen nicht zu verärgern.
Ohnehin war schon im Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD vieles für die Grünen mundgerecht angerichtet, zum Beispiel ein interpretationsbedürftiger Absatz zur Wissenschaftsfreiheit, der bisher weniger Beachtung fand, es aber in sich hat.
„Die Freiheit der Wissenschaft ist das Fundament für Fortschritt und Innovation, die es zu schützen gilt. Sie ermöglicht eine unabhängige Forschung und den Gewinn neuer Erkenntnisse frei von politischer Einflussnahme und Ideologie“. Das ist natürlich ein Witz, und es ist wirklich erbärmlich, dass die CDU das unterschrieben hat, denn nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein, als die Annahme, die Hochschulen der Bundesrepublik seien ideologiefrei. Tatsächlich sind weite Bereiche der Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaften dem links-grünen Milieu zuzurechnen, dessen geistiges Fundament auf den halbgaren Lehren des Postkolonialismus und diversen Identitätsdogmen beruht – das weiß die CDU sehr genau.
Der zitierte Paragraph dient also dazu, diese sektiererischen Bereiche vor jeglicher Kontrolle zu schützen, wie es bereits die empfindlichen Reaktionen von SPD und Grünen auf den von der CDU vorgelegten Fragebogen zu den ähnlich ausgerichteten NGOs gezeigt haben. Man muss kein Prophet zu sein, um vorherzusagen, dass die CDU auch ihre Kernforderung nach einer Amtssprache ohne Gendern begraben wird. Die Grünen haben also viel erreicht, hätten aber mit einer noch härteren Verhandlungsführung sicher noch mehr erreichen können, denn Merz & Co. wollten verzweifelt eine Einigung. Die Kritiker der CDU – allen voran die AfD – haben diesen Zusammenbruch der CDU-Bastion vorausgesagt, aber eben nicht in dem wirklich unfassbaren Ausmaß, wie er jetzt eingetreten ist. Selbst die AfD lag mit ihrer Prognose noch daneben. Aber welcher Kassandra hätten die Wähler die ganze bittere Wahrheit schon abgenommen?
Natürlich gibt es eine Reihe von Gewinnern, etwa die Verbraucher durch die Senkung der Stromsteuer, die Pendler durch die Erhöhung der Pendlerpauschale, die Gastronomen durch die Senkung der Mehrwertsteuer (dauerhaft auf 7 Prozent). Für die Landwirte wird die Agrardiesel-Rückvergütung wieder in vollem Umfang eingeführt – alles Punkte, die weder eindeutig für die CDU noch für die SPD stehen. Die Mütterrente wird ausgeweitet, bisher erhielt der erziehende Elternteil nur bis zu zwei Entgeltpunkte, wenn das Kind vor 1992 geboren wurde. Nun sollen es auch in diesen Fällen drei sein. Andere Punkte sind noch sehr allgemein gehalten, wie z.B. die Ankündigung, „die breite Mittelschicht durch eine Einkommensteuerreform (zu) entlasten“.
Wer eine Immobilie auf Kredit erwerben will, gehört bereits jetzt zu den Verlierern, denn die maßgebliche Rendite für zehnjährige Bundesanleihen – ein Indikator dafür, wie die Märkte die Bonität des Emittenten einschätzen – ist bereits deutlich gestiegen. Lag sie zu Jahresbeginn noch bei knapp 2,4 Prozent, schwankt sie inzwischen zwischen 2,8 und 2,9 Prozent.
Bei entsprechendem Wirtschaftswachstum und moderater Inflation wäre eine solche massive Verschuldung vielleicht sogar verkraftbar. Leider steht zu befürchten, dass eben dies nicht der Fall sein wird. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm befürchtet, dass der reguläre Haushalt durch die Schuldenpakete jährlich um 20-30 Mrd. € entlastet wird, und die frei werdenden Mittel dann für rein konsumtive Ausgaben (Pendlerpauschale, Mütterrente etc.) verwendet werden. Damit würden Erwartungen geweckt, die nur durch immer neue Schulden befriedigt werden können, und es ist äußerst unwahrscheinlich, dass mit der SPD echte Ausgabenkürzungen (verbrämt als „Sozialabbau“) durchsetzbar sind.
Eine höhere Schuldenquote würde auch die Refinanzierung der anderen EU-Länder verteuern, da sich deren Renditen an den Renditen von Bundesanleihen orientieren. Das Maßnahmenpaket von CDU und SPD stellt somit auch eine Gefahr für die Stabilität des Euro dar, zumal zu befürchten ist, dass sich diese Länder nun noch stärker verschulden.
Am Aktienmarkt dürften vor allem „grüne“ Aktien profitieren, z.B. Windkraftanlagen-Hersteller wie Nordex, was sich bereits in den Aktienkursen niederschlägt. Natürlich gehören auch Bauunternehmen wie Hochtief und Rüstungsunternehmen wie Rheinmetall und Hensoldt zu den Profiteuren, allerdings sind deren Aktienkurse bereits enorm gestiegen, so dass die Anlagerisiken hier recht hoch erscheinen. Langfristig könnten auch Logistikunternehmen von den Infrastrukturmaßnahmen profitieren.
Zu den Verlierern zählen (zumindest mittelfristig) die Halter von Altersvorsorge-Produkten mit einem hohem Anteil an Anleihen wie Lebensversicherungen oder die meisten Pensionskassen und Direktzusagen sowie die Mitglieder privater Krankenversicherungen. Auch Immobilienaktien gehören zu den Verlierern.
Die Sozialdemokraten sind Gewinner dieses politischen Schauspiels. Sie haben in den Verhandlungen viel erreicht und können ihren harten Verhandlungskurs so lange fortsetzen, wie sie wollen. Aus der Koalition mit der CDU könnten sie problemlos wieder aussteigen. Noch größere Gewinner sind die Grünen. Auch wenn sie in der nächsten Legislaturperiode im Bundestag nur die Oppositionsrolle einnehmen, werden sie die Politik wesentlich mitbestimmen, nicht nur weil sie im Bundesrat weiterhin ein gewichtiges Wort mitreden werden, sondern auch weil es ihnen gelungen ist, die politischen Vorfeldorganisationen zu besetzen und mit ihrer grünen Agenda den öffentlichen Diskurs über Jahre nachhaltig zu dominieren.
Friedrich Merz und die CDU könnten theoretisch aus diesem Käfig ausbrechen, werden es aber praktisch nicht tun. Sie und die konservative bürgerliche Mitte sind die großen Verlierer, auch wenn sie es derzeit nicht wahrhaben wollen. Und so soll ein Satz von Annalena Baerbock diesen Artikel beschließen: „Jetzt wird ein neues Kapitel grüner Politik aufgeschlagen“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Bernd Fischer absolvierte ein Studium der Physik und Mathematik in Köln und Boca Raton mit Promotion. 25 Jahre in leitenden Positionen in der Finanzbranche, zahlreiche Fachveröffentlichungen, seit 2020 freier Publizist mit eigenem Blog „Philippicae“.