
Die Regierung ist bemüht, ihre Differenzen nicht öffentlich auszutragen, aber am Richter-Streit um Frauke Brosius-Gersdorf wird deutlich, wie groß sie sind. Bei X / Twitter debattieren parteinahe Accounts über ein mögliches Platzen der „großen Koalition“ und appellieren jeweils vehement an Union und SPD, nicht nachzugeben.
Streit, unüberbrückbare Differenzen, persönliche Angriffe – daran zerbrach die unnatürliche „Ampelkoalition“ aus SPD, Grünen und FDP nach drei qualvollen Jahren. Nicht zu Unrecht hatten die Bürger das Gefühl, dass die Regierung mehr mit sich selbst als mit den Problemen des Landes beschäftigt war.
Als Friedrich Merz die Bundestagswahl 2025 – nicht überragend – gewann und sich die Union mit der stark geschrumpften SPD arrangieren musste, weil ihn die „Brandmauer“ an einer Alternative hinderte, versprachen beide Koalitionspartner, sich um die drängenden Probleme zu kümmern – und auf gar keinen Fall die Fehler der Ampelregierung zu wiederholen. Ein solches Bündnis sei „keine Liebesheirat, es ist, wenn überhaupt, eine Vernunft-Ehe“, sagt Juso-Chef Philipp Türmer.
Was Friedrich Merz und Lars Klingbeil vereinbarten: einen Burgfrieden, der dem fatalen Eindruck von Zerstrittenheit in der Öffentlichkeit entgegenwirken sollte. Denn bei der „Großen Koalition“ handelt es sich um ein fragiles Zweckbündnis mit allerlei inhaltlichen Differenzen: Ob Migration, Stromsteuer oder Bürgergeld – es gibt immer wieder Streit in der Regierung, der nur unter dem Deckel gehalten wird.Jetzt brach er offen aus: anlässlich der Causa Brosius-Gersdorf. Die Kontroverse entzündete sich an Berichten über die linke Agenda der SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht. Frauke Brosius-Gersdorf steht mit ihren Positionen zu gesellschaftspolitischen Themen wie der Impfpflicht in der Corona-Zeit, Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, Kopftuch im Justizwesen und Polygamie dem Weltbild der meisten Christdemokraten eher fern.
An der Causa Brosius-Gersdorf entzündete sich der Streit zwischen Union und SPD.Auch die zweite Richter-Kandidatin der SPD, Ann-Katrin Kaufhold, steht für eine Politisierung des höchsten deutschen Gerichts. Sie preist Gerichte und Bankenaufsicht als mögliche Klimaretter, die sich besser als Parlamente dafür eigneten, „unpopuläre Maßnahmen anzuordnen“, die nötig seien, bevor „sonst von den Freiheitsrechten nicht mehr viel übrigbleibt“.
Zudem stehen beide Bewerberinnen einem Verbotsverfahren gegen die AfD positiv gegenüber, das die SPD unbedingt forcieren will.
Während Lars Klingbeil trotz der Kontroverse um die umstrittenen Juristinnen auf Biegen und Brechen an ihnen festhalten will und Bundeskanzler Merz die Bedeutung der abgesagten Abstimmung im Bundestag herunterspielte („Das war am Freitag nicht schön, aber das ist nun auch keine Krise der Demokratie, keine Krise der Regierung“), tobt die Debatte vorwiegend in den sozialen Netzwerken. Die Vorfeld-Accounts der Regierungsparteien sehen im Richter-Streit schon den möglichen Koalitionsbruch.
Der Strategie- und Kommunikationsberater Erik Flügge (auch SPD-Mitglied), schrieb im Pioneer: „An der Richterwahl entscheidet sich die Kanzlerschaft von Friedrich Merz. Der Grund ist einfach: Seine Fraktion steht nicht zu den Vereinbarungen ihrer eigenen Führung und damit ist sie genauso regierungsunfähig wie die FDP es in der Ampel war.“ Sein Amtsvorgänger habe die Zustimmung der Deutschen vor allem über den Streit in seiner Koalition verloren. Wenn Jens Spahn „schon nach drei Monaten keine Mehrheit mehr für die eigenen Vereinbarungen in der Fraktion findet“, so Flügge, seien Regierungskompromisse jederzeit gefährdet:„Kanzler Merz kann nur hoffen, dass Klingbeil und Miersch jetzt so hart bleiben – im Zweifel bis zum Koalitionsbruch, dass er diesen Druck nutzen kann, um die eigenen Reihen wieder verlässlich aufzustellen. Brosius-Gersdorf und Kaufhold werden gewählt oder der Kanzler Merz ist gescheitert.“
Ruprecht Polenz – vor einem Vierteljahrhundert kurzzeitig CDU-Generalsekretär unter Merkel, offiziell noch Christdemokrat, dabei grüner als Grüne – sekundierte gar: „Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sollte sich bei Frau Brosius-Gersdorf dafür entschuldigen, dass sie im Verfahren nicht genug Sorgfalt aufgewandt hat, um Schaden von den zur Wahl vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten abzuwenden.“
Baha Jamous (Director People & Corporate Affairs beim Fintech Solaris, war Referent, Wahlkampfmanager und Geschäftsführer der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU Sachsen) hingegen warnte die Union davor, sich „von einer 16%-Partei und ihrem Webseiten-Admin erpressen“ zu lassen. Schon im Mai hatte er geschrieben: „Die Union muss jetzt aufpassen und darf sich nicht wieder selbst entkernen, nur um eine fragile Koalition zu schmieden.“ Seine Hoffnung sei nicht sehr groß, dass ein echter Politikwechsel möglich: „Denn jede notwendige Reform würde die SPD in direkte Konfrontation mit ihrer eigenen Wählerschaft bringen.“
Jetzt brachte er den Streit um Brosius-Gersdorf bei X (Twitter) auf den Punkt und empfahl der Union: „Es kann nur eine Antwort auf die Drohgebärden der SPD geben: ‚Lasst halt die Koalition platzen und wir wählen so lange bis ihr einstellig seid.‘“
Die Reaktion des Kommunikationsexperten und SPD-Wahlkampfberaters Mattheus Berg: „Erst wenn man es sie spüren lässt, werden sie merken, dass die Kanzlerschaft der CDU kein Naturgesetz ist.“
Dass Baha Jamous unglücklich mit dem Koalitionspartner der CDU ist, wurde eben wieder deutlich, als der Spiegel über Matthias Platzecks zahlreiche Reisen nach Russland berichtete und den ehemaligen Fraktionschef Mützenich zitierte, der Ex-SPD-Chef sei „uneigennützig“ um Frieden bemüht. Baha über die SPD: „Was für ein kaputter Laden…“
Auch der „Plagiatsjäger“ Stefan Weber, der kurz vor der angesetzten Abstimmung im Bundestag wörtliche Übereinstimmungen in den juriastischen Arbeiten von Frauke Brosius-Gersdorf und ihrem Mann gemeldet hatte, hält einen Koalitionsbruch für möglich: „Ich schließe nicht mehr aus, dass sich die Fronten zwischen CDU und SPD wegen der Personalie Brosius-Gersdorf so verhärten werden, dass die Koalition platzt.“
Julius Betschka vom stern (früher beim Tagesspiegel) hatte sich schon kurz nach Beginn der Kontroverse um Brosius-Gersdorf bei X laut gefragt, „warum sich so viele anständige Konservative davon derart unter Druck setzen lassen, dass sie die Kraft der Koalition, der Fraktionsführung, des Kanzlers aufs Spiel setzen.“ Der Widerstand in der Unionsfraktion habe sehr früh begonnen, „es geht dabei um die DNA der Union & ein neues Selbstbewusstsein in der Fraktion. Das alles war kein Unfall, das kann schon bald wieder passieren.“
Eine selbstbewusste CDU/CSU – für Betschka, dem durchaus klar ist, wie tief die Gräben in der Koalition sind, eine Horrorvorstellung. Daher hofft er, wie Flügge, darauf, dass die SPD hart bleibt, Merz einknickt und am Ende die beiden SPD-Richterkandidatinnen gegen den Widerstand vieler Abgeordneter, die sich von Klingbeils SPD nicht Zusdtimmung bis zur Selbstaufgabe zumuten lassen wollen, doch noch durchwinkt.
Dass einige CDU-Abgeordnete, wie etwa Saskia Ludwig, Brosius-Gersdorf für „unwählbar“ halten („Diese Frau atmet Diktate und Vorschriften“), nährt Spekulationen, dass die Union eher einen Koalitionsbruch riskieren würde, als eine Kandidatin zu akzeptieren, die von allen Überzeugungen typischer CDU-Wähler sehr weit entfernt steht. Wenn sich die Union auch in der Richter-Frage von Klingbeil erpressen lässt und klein beigibt, entkernt sie weiter ihr eigenes Programm und macht sich überflüssig.
CDU-Rebellin Saskia Ludwig hält Brosius-Gersdorf für „unwählbar“
Inzwischen kann in der Koalition aber keiner mehr nachgeben, ohne das Gesicht zu verlieren. Die beste Lösung wäre ein Rückzug von Brosius-Gersdorf (und Kaufhold), doch die SPD hat sich festgelegt und die Union ist gespalten. Schadensbegrenzung wäre nur noch, die Personalie zur Gewissensfrage zu erklären und eine offene Abstimmung zu ermöglichen, sonst scheint die Konfrontation unausweichlich.
Der Politikwissenschaftler Armin Petschner-Multari warnte bereits auf X: „Wenn sich der sozialdemokratische Koalitionspartner hier durchsetzen sollte, obwohl es innerhalb der Unionsfraktion und der Unionsparteien erhebliche Bedenken gibt und viele regelrecht auf die Barrikaden gehen, dann wird die SPD bis zum Ende der Legislaturperiode bei keinem Vorhaben mehr Rücksicht auf die Befindlichkeiten innerhalb von CDU und CSU nehmen. Dieses Signal kann nun wirklich nicht im Sinne der Union sein.“
Viel hängt davon ab, ob sich aufrechte CDU-Abgeordnete, die Brosius-Gersdorf nicht wählen wollen, von dem unweigerlich erhobenen Vorwurf einschüchtern lassen, einer „Kampagne von Rechtsaußen“ aufgesessen zu sein, dem Totschlagargument der Linken schlechthin, das jede offene Debatte im Keim ersticken soll. Mit diesem Holzhammer droht die CDU/CSU schließlich bei jeder Frage eingeschüchtert zu werden: Wasser auf die Mühlen der Rechten zu leiten.
Und Streitpotenzial wohnt grundsätzlich fast jeder Frage inne. Eben feierte Kanzler Merz die Initiative „Made for Germany“: Die Chefs führender Konzerne in Deutschland (wie BASF, BMW, Daimler, Rheinmetall, Volkswagen) und den USA (Nvidia, Blackrock Blackstone) kündigen Investitionen von 631 Milliarden Euro an. „Deutschland ist zurück, es lohnt sich, wieder in Deutschland zu investieren“, behauptete Merz.
Allerdings erwarten die Vorstandschefs umfassende strukturelle Reformen von der Regierung: dass Energie dringend günstiger werden muss, die Bürokratie abgebaut und die Sozialsysteme umgebaut werden müssen. Lars Klingbeil nannte die Initiative zwar „wichtig“, weiß aber auch, dass insbesondere die Reform der Sozialsysteme politischen Sprengstoff beinhaltet: „Wenn wir das als schwarz-rote Regierung nicht hinbekommen, werden irgendwann Leute mit der Kettensäge an die Macht kommen.“
Wie lange geht das gut mit Klingbeil und Merz?
Womit der Vizekanzler und Bundesfinanzminister vor Zuständen wie unter Argentiniens Präsident Javier Milei warnte. Dabei hat es eben dieser Milei mit zahlreichen wirtschaftspolitischen Reformen geschafft, sein Land aus der katastrophalen Wirtschaftskrise zu holen. Ein erstaunlicher Erfolg, an dem sich Klingbeil jedoch keinesfalls ein Beispiel nehmen will.
Die inhaltlichen Überschneidungen zwischen der Union und der größten Oppositionspartei AfD sind größer als die mit der SPD unter Lars Klingbeil und Bärbel Bas. Einzig die „Brandmauer“ verhindert eine wie auch immer geartete Kooperation. Ob der historische Wahlverlierer Klingbeil sein Blatt nicht überreizt und was er dann mit seiner weiter verzwergten Partei (derzeit in der Sonntagsfrage bei 13–15 Prozent) noch anstellen kann, darüber wird derzeit nur von den Vorfeld-Accounts bei X offen gestritten. Möglicherweise schon bald aber auch auf der großen Bühne.
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