
Die brisanten Entwicklungen der letzten 48 Stunden könnten zu einem gewaltigen Problem für Friedrich Merz und die Union werden. Denn sie zeigen, dass die SPD kaum ein Interesse daran hat, Merz' größtes aller Wahlversprechen mitzugehen.
„Am ersten Tag“ und „ausnahmslos alle“, lauteten die unmissverständlichen Worte des CDU-Chefs, die er mitten im Wahlkampf und nach dem schrecklichen Messermord von Aschaffenburg in die TV-Kameras sprach. Niemand ohne gültige Einreisedokumente sollte unter einem möglichen Kanzler Merz Deutschland noch betreten dürfen. Sein Generalsekretär Carsten Linnemann hatte das Merz-Versprechen mit den Worten „sonst regieren wir eben nicht“ zur absoluten Bedingung erhoben.
Längst ist diese vermeintliche Regierungs-Bedingung in den Verhandlungen mit der SPD abgeschliffen worden: Aus „ausnahmslos alle“ ist „auch bei Asylgesuchen“ geworden, aus „am ersten Tag“ ein „in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn“, wobei es an dieser Stelle Streit gibt, weil die SPD darauf beharrt, dass „in Abstimmung“ gleichzeitig „in Einigkeit“ bedeutet.
Doch die Sozialdemokraten zeigen auch an anderer Stelle, dass sie kein Interesse daran haben, der Forderung von CDU und CSU nachzugeben.
Da ist zum Beispiel Noch-Innenministerin Nancy Faeser von der SPD, die sich selbst am Dienstag eine hervorragende Migrationspolitik attestierte: „Bei den aktuellen Asyl-Zahlen kann man sagen: Wir haben die irreguläre Migration stark zurückgedrängt, trotz der Krisen und Kriege, die wir aktuell erleben. Im ersten Quartal 2025 liegt die Zahl der Asyl-Gesuche um rund 35 Prozent unter der Zahl aus dem letzten Jahr und 50 Prozent im Vergleich zum Quartal 2023.“
Im Stil von Robert Habeck: Nancy Faeser will ihren Aussagen mit Papptafeln Ausdruck verleihen.
Faeser lässt dabei zwar zwei zentrale Fakten weg, nämlich dass die scheidende Ampel-Regierung lediglich die Asyl-Zahlen, die sie selbst auf bis zu 351.000 Anträge pro Jahr hat explodieren lassen (ein Plus von 85 Prozent in zwei Jahren), zurück auf das (hohe) Niveau rund um 200.000 Anträge pro Jahr geführt hat, bei dem sie die Regierungsverantwortung übernommen hatte. Außerdem, dass sich allen voran Faeser über Jahre und Monate mit Händen und Füßen gegen die entscheidenden Maßnahmen gewehrt hatte, die zum Rückgang der Fallzahlen geführt hat, nämlich gegen die dauerhaften Kontrollen an den deutschen Außengrenzen.
Unmissverständlich erscheint jedoch die Botschaft, die Faeser auch in die Koalitionsverhandlungen senden möchte: „Die Ampel hat doch längst etwas getan und das, was getan wird, wirkt doch längst – mehr ist also nicht nötig.“
Deshalb bejubelt Faeser plötzlich auch die Grenzkontrollen, die sie ursprünglich nie wollte, aber im Oktober 2023 auf großen öffentlichen Druck hin einführte, und auch die 50.000 Zurückweisungen für Einreisewillige, die seither die Folge waren. „So verhindern wir, dass Menschen einreisen, die nicht einreisen dürfen und wir legen Kriminellen und Extremisten das Handwerk“, sagte Faeser und sendete dann die nächste Botschaft an die Union: „Dabei handeln wir weiterhin eng abgestimmt mit unseren Nachbarstaaten und vor allem im Einklang mit europäischem Recht.“
Faeser greift den Streitpunkt aus den Koalitionsverhandlungen („in enger Abstimmung“) auf und kombiniert ihn mit der Kern-Kritik der SPD an den Zurückweisungsplänen von CDU und CSU, nämlich dass dies mit dem europäischen Recht nicht vereinbar sei.
Ist das diebische Freude? Nancy Faeser nutzt ihre Migrations-Bilanz-Show als Botschaft an die Union.
Aber nicht nur Europarecht, das bei der Dublin-Regelung seit Jahren zum Nachteil Deutschlands von sämtlichen Nachbarstaaten ignoriert wird, führen Sozialdemokraten an, auch am individuellen Recht auf Asyl will bei der SPD niemand rütteln. Das zeigen die Reaktionen auf die fundamentale Kritik an der deutschen Migrationspolitik durch Hans-Eckhard Sommer, den Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.
„Unser zynisches Asylsystem erlaubt keine Begrenzung der Migration. Es lädt regelrecht zu Missbrauch ein“, sagte Sommer bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Statt des individuellen Rechts auf Asyl, das viele Menschen zu lebensgefährlichen Reisen in den Händen krimineller Schlepper animiere, solle sich Deutschland „aus alten Denkschemata befreien“, so Sommer, und stattdessen auf organisierte humanitäre Programme setzen, um Schutzbedürftige „in beachtlicher Höhe“ nach Deutschland zu holen.
BAMF-Chef Hans-Eckard Sommer
Es ist ein Gedanke, den der CDU-Politiker und Merz-Vertraute Thorsten Frei bereits 2023 in einem Gastbeitrag in der FAZ in die Debatte eingebracht hatte. Frei beschrieb damals, wie ungerecht das aktuelle Asylsystem sei, weil die Schwächsten gar nicht die Möglichkeit hätten, sich auf gefährliche Flucht-Reisen zu begeben und die Auswahl der Asyl-Bewerber nach dem „Recht des Stärkeren“ erfolge.
Mit diesem Gastbeitrag mit dem Titel „Unser Asylrecht gründet auf einer Lüge“ stieß Frei eine Debatte um das individuelle Recht auf Asyl an.
In diese Kerbe schlug nun auch BAMF-Chef Hans-Eckard Sommer ein und warnte vor den gesellschaftlichen Folgen, wenn die Politik die augenscheinlichen Probleme der Migration nicht adressiere und löse: „Die innere Sicherheit und der gesellschaftliche Zusammenhalt werden dadurch aufs Spiel gesetzt.“ Sommer sprach von einem „Kipppunkt“, den verantwortliche Politik spüre und sagt dann: „Er ist erreicht.“
Auch für die SPD ist offenbar der Kipppunkt erreicht, jedoch nicht der, der eine radikale Wende in der Migrationspolitik auslösen würde, sondern vielmehr der Punkt, an dem es für den Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nicht mehr weitergehen sollte. Denn führende Sozialdemokraten kritisieren den BAMF-Chef heftig, fordern gar den Rücktritt, anstatt auf die Fundamental-Kritik inhaltlich einzugehen.
SPD-Politiker Ralf Stegner
„Solche öffentlichen Äußerungen eines Behördenchefs widersprechen seiner Verantwortung, verletzen mutmaßlich die Dienstpflichten und ziehen in der Regel personelle Konsequenzen nach sich“, sagte etwa SPD-Politiker Ralf Stegner dem Handelsblatt. Der Chef der Jungsozialisten, der Nachwuchs-Organisation der SPD, Philipp Türmer sagte dem RND: „Herr Sommer sollte dringend sein Rollenverständnis überdenken.“ Es sei „extrem befremdlich, wenn ein Behördenchef ein Menschenrecht, das im Grundgesetz verankert ist, in Frage stellt. Beamtinnen und Beamte sollten sich an unsere Verfassung halten und deren Grundwerte verteidigen“, so Türmer weiter.
Jan Dieren, Sprecher der parteiinternen linken Gruppierung DL21, nannte Sommers Vorstoß den „schlechtesten Aprilscherz des Tages“. Und weiter: „Das individuelle Recht auf Asyl ist mit gutem Grund ein unverrückbarer Bestandteil des Grundgesetzes“. Es brauche nur ein wenig Anstand, da nicht mitzumachen, sagt er weiter: „Die SPD darf und wird das nicht mitmachen.“
Juso-Chef Philipp Türmer
Es ist exakt die Streitlinie zur Union, die hier öffentlich mit BAMF-Chef Sommer als Prügelknaben ausgetragen wird: Die SPD will das individuelle Recht auf Asyl nicht anfassen, die SPD will, dass jeder, der an der deutschen Grenze Asyl verlangt, nach Deutschland einreisen kann und dass sein Begehren überprüft wird.
Wer Sozialdemokraten darauf hinweist, dass das individuelle Recht auf Asyl in Artikel 16, Absatz 1a zu finden ist, es jedoch durch Absatz 2 mit den Worten „Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist“ eingeschränkt wird, darf von der SPD den Hinweis auf EU-Recht erwarten.
Diese beiden Ereignisse – Faesers versteckte Botschaften in ihrer Migrations-Bilanz-Show und der SPD-Furor über die Warnungen des BAMF-Chefs – zeigen die Mauer der Sozialdemokratie, an der die Merz-Versprechen für eine Migrationswende zerschellen könnten.
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