
Jens Spahn hat nichts besonders Neues oder Revolutionäres gesagt. Weder wollte er die Brandmauer schleifen noch der AfD einen Bundestagsvizepräsidenten nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zugestehen. Spahn hat lediglich die Überlegung geäußert, dass es wenig klug sei, die stärkste Oppositionspartei weiterhin von allen parlamentarischen Gepflogenheiten auszuschließen und ob es nicht zielführender sei, die inhaltliche Auseinandersetzung zu suchen, anstatt bei jeder Kleinigkeit die formale Keule herauszuholen.
Aber das genügte bereits. Irrlichterei wurde ihm bescheinigt, SPD und Grüne zeigten sich empört und entsetzt. Das Tor zur Hölle geöffnet zu haben, warf man ihm nicht vor, die Öffnung hat ja Friedrich Merz bereits erledigt. Aber sonst jede Menge moralische Entrüstung, Argumente suchte man vergeblich.
Ganz offensichtlich haben SPD und Grüne zwar die Bundestagswahl sehr deutlich verloren, denken aber nicht daran, die Diskurs- und Deutungshoheit darüber abzugeben, wie man sich mit der AfD auseinandersetzen darf. Aus ihrer Sicht verständlich. Solange die undifferenzierte Komplettausgrenzung der AfD funktioniert, haben SPD und Grüne ein Abonnement auf die Macht, da interessiert die Abstrafung durch die Wähler nur am Rande. In weiten Teilen Ostdeutschlands haben SPD und Grüne inzwischen den Status von Kleinparteien erreicht – auch das muss nicht interessieren, solange der Union diktiert werden kann, wer mit wem wie wann reden darf.
Auch der sächsische CDU-Chef Michael Kretschmer sprach sich für eine normale Behandlung der AfD aus.
Für den Führungsanspruch der Union wird diese Frage in den nächsten Jahren existentiell. Wenn sie sich – als Wahlsieger und stärkste Partei – von den Verlierern der Bundestagswahl vorschreiben lässt, wie sie mit einer Partei umgehen darf, der immer mehr Menschen eher zuzutrauen scheinen, bürgerliche Politik im Sinne der Mehrheit umzusetzen, dann wird sie auch ansonsten gesellschaftliche Konflikte und absehbare Auseinandersetzungen über Besitzstände nicht erfolgreich durchstehen.
Genau das bedeutet aber politische Führung. Wer die nicht liefert, wird sie vom Wähler nicht erneut bekommen.
Medialen Druck muss eine Partei aushalten können, wenn sie eine Politik verfolgt, die eine Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich weiß. Die Union ist die einzige Partei, die die Spaltung der Gesellschaft, die es längst gibt, überwinden kann. Das bedeutet nicht, eigene Inhalte aufzugeben, sondern im Gegenteil: genau für diese Inhalte zu werben und Mehrheiten zu finden, auch wenn das nicht jedem gefallen mag. Auch die Entrüstung der SPD wird man in Kauf nehmen müssen. Sie darf nicht zum Maßstab dafür werden, was in der Politik gesagt und getan werden muss.
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