
Die wichtigsten Sätze sagt Meta-Chef Mark Zuckerberg erst etwas weiter hinten in seinem Statement: „Zweitens werden wir unsere Inhaltsrichtlinien vereinfachen und eine Reihe von Beschränkungen – etwa zu Einwanderung und Geschlechterfragen – aufheben, die nicht mehr mit dem übereinstimmen, was in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird. Was ursprünglich als Bewegung für mehr Inklusivität gedacht war, wird immer häufiger dazu genutzt, andere Meinungen mundtot zu machen und Menschen mit anderen Ideen auszuschließen – und das ist zu weit gegangen.“
Zuckerbergs Erklärung, die in Deutschland und Europa vielfach mit Bestürzung und Ankündigung von regulativem Widerstand aufgenommen wurde, ist nichts anderes als ein Mauerfall für die Meinungsfreiheit. Der „Eiserne Vorhang“, der 1989 fiel, war auch ein Dammbruch für die freie Rede, für das freie Denken und vor allem für die freie Kritik an den Mächtigen. Den bislang Mächtigen, die im Nachgang nicht nur die ideologische Deutungshoheit über die Realität verloren, sondern auch den ganz direkten Zugriff auf die Menschen im ehemaligen Ost-Block.
Was Zuckerberg in seiner Erklärung verkündet, mag man als „Kniefall“ vor dem künftigen US-Präsidenten Donald Trump zu diskreditieren versuchen, aber es ist im Kern etwas ganz anderes: Es ist der – hoffentlich nachhaltige und dauerhafte – Abbruch einer politisch gewollten Filterung der öffentlichen Meinung unter dem Deckmantel der Bekämpfung von „Fake News“ und „Hass und Hetze“. Demokratie und Freiheit leben davon, dass auch frei diskutiert werden kann, nicht nur „darf“, sondern geradezu MUSS!
Mark Zuckerberg in seiner Videoansprache.
Denn Zuckerberg benennt auch ganz klar die politische Gier nach Meinungskontrolle, die hinter den „Faktencheckern“ und Plattform-Kontrolleuren lauert: „Es gab weit verbreitete Debatten über mögliche Schäden durch Online-Inhalte. Regierungen und etablierte Medien haben immer mehr Zensur gefordert. Vieles davon ist offensichtlich politisch motiviert …“ Gerade, wer Gesellschaften wehrhaft machen will gegen totalitäre Regime und Strömungen, muss der Meinungsfreiheit größten Raum geben. Schon im eigenen Interesse, und auch wenn mitunter die Grenzen des (von wem auch immer definierten) guten Geschmacks überschritten werden. Wer jetzt seine eigene Weltsicht mit „Faktencheckern“ und „Löschorgien“ absichern und dauerhaft gegen Kritik imprägnieren will, etabliert ein Vorbild für Zensur und geistige Bloggwärter in anderen politischen Lagern.
Meinungsfreiheit sichert man mit mehr freier Rede und nicht mit weniger. Freier Meinungsstreit hält die Debatten in der Balance, sorgt für Rede und Gegenrede und beugt Opfermythen vor, die Gesellschaften demokratisch unter Druck bringen. Oder um es mit Zuckerberg zu sagen: „Die Faktenprüfer waren einfach zu politisch voreingenommen und haben mehr Misstrauen gesät, als sie jemals Vertrauen schaffen konnten.“
Kritiker werden einwenden, durch den Wegfall von Kontrolle werde Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und destruktiver Aggression das Feld bereitet. Dem kann man entgegenhalten, dass Faktenfehler gerade in freien Foren durch Besser-Wissende korrigiert werden und Lügen auch sonst kurze Beine haben. Überall dort, wo selektive Wahrnehmung am Werk ist, wo unterschiedliche Interpretationen (womöglich auch böswillig) möglich sind, muss eine freie Gesellschaft das aushalten und im besten Fall für alle sichtbar im offenen Diskurs klären und erklären.
Aber ist der Vergleich mit 1989 dann nicht doch etwas hoch gegriffen? Ich finde nicht. Zuckerberg setzt ein Zeichen, dass soziale Netzwerke nur solange wirklich sozial sind, wie sie möglichst frei von politischer Einflussnahme sind. Die Rücknahme verschiedener Zensur-Mechanismen trifft auf eine Zeit, in der politische Bewegungen in aller Welt eine Rückbindung der Parteien an die Meinung der Straße, die Volksmeinung, vollziehen. Das ist unangenehm und vor allem anstrengend für die etablierte Politik, die ihre Entscheidungen besser begründen und erklären muss. Es ist aber in der Tat eine Art demokratischer Wende, weil die Weggabelung zwischen Meinungsfreiheit und Meinungskontrolle entscheidend ist für Entwicklungen der westlichen Gesellschaften.
Mit dem Zensieren, Löschen und Unterdrücken missliebiger, womöglich sogar falscher Meinungen schlagen Gesellschaften einen Weg ein, der früher oder später zwingend in Repression enden muss, weil ausgeblendete Gedanken nicht verschwinden, sondern nach anderen Möglichkeiten suchen, sich auszudrücken, weil sie drängender, radikaler und wahlloser in ihren Mitteln werden, sich Gehör zu verschaffen. Es gehört zu den Widersinnigkeiten dieser Zeit, dass eine vermeintlich immer inklusivere Identitätspolitik gleichzeitig immer restriktiver versucht, im Dienste der vermeintlichen „Sichtbarkeit“ von Minderheiten mögliche kritische Mehrheiten unsichtbar zu machen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steckt eine Rose in die Hinterlandmauer.
Es mag pathetisch klingen, aber wer gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern will, muss nicht nur sexuelle Sonderidentitäten fördern, sondern auch Meinungsvielfalt bis zur demokratischen Schmerzgrenze ermöglichen. Die sogenannten Populisten, die derzeit in vielen Ländern Erfolge feiern, sind auch das Ergebnis einer politischen gewollten „Engführung“ (Bernhard Schlink) der Meinungskorridore.
So gesehen, hat Mark Zuckerberg der Demokratie mit seinem Signal-Startschuss einen großen Dienst erwiesen.
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