Nur 40 Prozent glauben an Meinungsfreiheit: Angstland Deutschland – warum wir uns selbst das Reden verbieten

vor 21 Tagen

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Der Staat schränkt die Meinungsfreiheit ein, für böse Wörter gibt es Hausdurchsuchungen sowie Geldstrafen und deshalb denken völlig zu Recht 40 Prozent der Deutschen, dass sie ihre Meinung nicht frei äußern können. Das ist das klassische Argument in konservativ-liberalen Kreisen. Und es ist ja auch nicht falsch. Aber die einseitige Schuldzuweisung an den Staat greift zu kurz. Sie ignoriert das Wesen der freien Meinungsäußerung, veränderte Bedingungen und vernachlässigt die Verantwortung des Einzelnen.

Seit dem Jahr 1990 fragt das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) die Deutschen, wie es um die gefühlte Meinungsfreiheit steht. Die konkrete Frage lautet: „Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser vorsichtig zu sein?“

Während im Jahr der Wiedervereinigung noch 78 Prozent der Befragten der Ansicht waren, frei reden zu können und nur 16 Prozent mit „besser vorsichtig sein“ antworteten, waren 2023 nur noch 40 Prozent der Deutschen der Auffassung, ihre Meinung frei äußern zu können. Erstmals war mit 44 Prozent die relative Mehrheit auf der vorsichtigen Seite.

Von 1990 bis 2017 sank der „kann frei reden“-Anteil in der IfD-Umfrage langsam und kontinuierlich von 78 Prozent auf 63 Prozent. Der richtige Absturz erfolgte zwischen 2017 und 2021 auf dann nur noch 44 Prozent, wohl nicht zufällig befanden sich die Coronamaßnahmen in diesem Zeitabschnitt.

Dezember 2021: Selbst an der frischen Luft im Fußballstadion wurden Abstands-Regeln vorgeschrieben

Doch wie schlimm ist dieser dramatische Absturz in der gefühlten Meinungsfreiheit wirklich? Es stimmt natürlich, dass der Staat durch Meldestellen, durch Hausdurchsuchungen, durch irre Paragrafen und durch Politiker, die allzu freche Meinungsäußerungen der Bürger ähnlich wertschätzend behandeln wie deren Steuergeld, einen erheblichen Anteil an einem gesellschaftlich eher suboptimalen Meinungsklima hat. Und es stimmt auch, dass in den letzten Jahrzehnten besonders die linken Kollektivisten an den Universitäten, in den Redaktionsstuben, in Film und Fernsehen sowie in den Schulen gerne Meinungspolizei spielten.

Aber der ausschließliche Verweis auf den übereifrigen Staat und die linke Gesinnungspolizei greift zu kurz. Es gibt zwei zu wenig beachtete Faktoren.

Das Problem fängt schon mit der Allensbach-Frage nach der gefühlten Meinungsfreiheit an. Ich behaupte: Diese Frage wurde vor dreißig, vor zwanzig, sogar noch vor zehn Jahren von den Befragten ganz anders verstanden als in den letzten fünf Jahren. Jeder Normalbürger, der in den 90er-Jahren danach gefragt wurde, ob er seine Meinung frei äußern könne, hat sich selbst gefragt, ob er unter Freunden und Bekannten, Arbeitskollegen und Familienmitgliedern seine Meinung äußern kann, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Gleiches gilt für die 00er-Jahre. Erst gegen Ende der 2010er-Jahre wurden die sozialen Medien, die natürlich schon länger existierten, politisch so richtig relevant. Und erst Anfang der 2020er-Jahre wurden sie journalistisch so richtig relevant. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass es in den Jahren 2019 und 2020 eine kleine Sensation war, wenn ein Tweet in einem relevanten Medium zitiert wurde oder im Radio landete. Heute ist das Alltag.

Inzwischen können auch Meinungsäußerungen von normalen Bürgern eine größere Reichweite erhalten als jede Markplatz-Ansprache von Manuela Schwesig (SPD, hier am 1. Mai 2025 in Schwerin).

Erst seit wenigen Jahren können ganz normale Bürger mit ganz normalen Berufen mit ihrer politischen Meinung eine erhebliche Reichweite erzielen. Erst seit wenigen Jahren, verstärkt durch die Coronamaßnahmen-Zeit, sind Shitstorms und berufliche wie private Konsequenzen aufgrund politischer Äußerungen in den sozialen Medien im gesellschaftlichen Bewusststein.

Deshalb glaube ich nicht, dass das Äußern der eigenen Meinung im Jahr 2025 um fast 40 Prozentpunkte gefährlicher ist als im Jahr 1990. Damals ging es bei der IfD-Frage um relativ kleine Reichweiten, heute geht es bei der Frage mindestens unterbewusst um fünf-, sechs- und siebenstellige Reichweiten im Internet. Was hätten denn die Leute damals geantwortet, wenn man sie gefragt hätte, ob sie wirklich frei auf dem Marktplatz, auf einer Bühne oder in eine Fernsehkamera hinein reden können? Ich vermute, die Antworten hätten plötzlich ähnlich pessimistisch ausgesehen wie in der Gegenwart.

Anfang 2021 sagte die ZDF-Moderatorin Dunja Hayali im ZDF-Morgenmagazin zwei viel beachtete Sätze: „Man kann in Deutschland eigentlich alles sagen. Man muss dann halt manchmal mit Konsequenzen rechnen.“ Natürlich erntete sie dafür viel Kritik von Konservativen und Liberalen, schließlich wirkt das Zitat aus dem Mund einer zwangsfinanzierten Linken mit Millionenreichweite und entsprechender Machtposition anmaßend, androhend und einfach nicht richtig. Aber sie hat einen Punkt.

Die eigene Meinung sagen, die eigene Meinung aufschreiben, das ist kein ungefährliches Unterfangen. Es hat Konsequenzen. Aber nicht die eigene Meinung sagen, nicht das schreiben und sprechen, was man denkt, das hat auch Konsequenzen. Das zweite große Missverständnis, wenn sich in bürgerlichen Kreisen über die schlecht aussehende gefühlte Meinungsfreiheit empört wird, ist die fast schon utopische Sehnsucht nach einem freien Markt der Ideen, abgekoppelt vom restlichen, unpolitischen Leben.

Na klar, das Private ist nicht politisch, persönlich wütend auf andere Menschen wegen ihrer politischen Auffassung zu sein, das ist unaufgeklärt und schön wäre es, wenn nach jedem Streit zusammen ein Bierchen getrunken wird. Sehe ich ja auch so, ist aber nicht die Realität. Weder historisch noch auf der Welt noch in Deutschland. Historisch war das Aussprechen der eigenen Überzeugungen, gerade wenn sie sich gegen die herrschende Ideologie richteten, so ziemlich das Gefährlichste, was man tun konnte. Das sollte spätestens seit Sokrates bekannt sein. Aber gegen dessen Todesstrafe wirkt ein Shitstorm oder der Verlust einiger falscher Freunde doch relativ erträglich. Es gibt trotz aller staatlicher Repressionen wenige andere Länder auf dem Planeten, in denen man so einfach, so frei und mit so einer Reichweite die eigene Meinung verbreiten kann.

Aber das menschliche Gehirn neigt nun einmal dazu, sich Horrorszenarien auszudenken. Gerade dann, wenn es um Meinungsäußerungen geht, bei denen man nicht weiß, welche Menschen sie mitbekommen. Jedoch sorgt selbst die größte Sicherheit nicht unbedingt für mehr Mut. So ist zum Beispiel ein deutscher Professor in einer der sichersten Positionen der Menschheitsgeschichte. Er kann nicht nur nicht gefeuert werden, sein Arbeitgeber muss sich sogar hinter ihn stellen und ihn beschützen. Dennoch sind viele Professoren Feiglinge, die vor ein paar wütenden Studenten so viel Angst haben, dass sie sich selbst zensieren. Viele Menschen sind Feiglinge, sie würden sogar bei totaler Sicherheit nicht zu ihren Überzeugungen stehen, wenn sie sich in der Minderheit wähnen. Da kommen pessimistische IfD-Umfragen als Bestätigung der eigenen Unzulänglichkeiten recht gelegen.

Böhmermann machte in seiner Sendung die Identität von „Clownswelt“ öffentlich.

In der Realität gibt es relativ wenig Grund für Angst. Ein aktuelles Beispiel dafür ist „Clownswelt“. Die Identität des rechten, eigentlich anonymen Youtubers wurde von Jan Böhmermann und der Zeit vor Millionenpublikum offen gelegt. Die Konsequenz? Er hat ein paar falsche Freunde verloren und etwa 250.000 Abonnenten gewonnen. Gibt Schlimmeres im Leben. Auch wenn das Äußern der eigenen Meinung nicht ohne Risiko ist, so ist die wahrscheinlichste Folge, dass gar nichts Negatives passiert.

Die Antwort auf die sinkende gefühlte Meinungsfreiheit ist mehr persönliche Verantwortung, mehr Toleranz für andere Meinungen und der Mut zur eigenen Meinung. Weil die Verleugnung der eigenen Meinung weitaus schlimmere Konsequenzen hat. Wer sich das Reden aus Angst vor Dritten selbst verbietet, versklavt sich freiwillig und könnte genauso gut gar keine Meinung haben. Wenn genug vernünftige Menschen sich cancelbar machen, ist kein vernünftiger Mensch mehr cancelbar. Schuld am schlechten Meinungsklima haben nicht nur totalitäre Politikern, auch das duckmäuserische Bürgertum hat seinen Anteil.

Die Antwort kann nicht in der Bestärkung der Angst vor Meinungsäußerungen liegen, sondern in dem Aufruf, nicht nur den Mut zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, sondern auch den Mut zu besitzen, die eigenen Gedanken zu formulieren. Weinerliches Opfergehabe kann jedenfalls niemals die Antwort von freiheitlichen Menschen sein.

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