
Seit 20 Jahren hält die SPD das Land mit ihrer Sinn- und Selbstsuche in Geiselhaft. Von Franz Müntefering über Andrea Nahles und Saskia Esken bis Lars Klingbeil ist die SPD vor allem bestrebt gewesen, ihr ewiges Hartz-IV-Trauma zu therapieren – auf Kosten des Landes. Da machte die Zusammenkunft im „Berlin Cube“ am Wochenende keinen Unterschied.
Hartz IV gibt es schon gar nicht mehr, aber der jüngste Parteitag zeigte, dass die Partei darüber einfach nicht hinwegkommt. Dahinter steht vor allem eine größere Sinnkrise, auf die die Genossen seit zwei Jahrzehnten keine Antwort finden: Wofür braucht es die SPD noch?
Die Suche einer Antwort darauf gestaltete sich auch am Wochenende mehr als nur schwierig. Juso-Chef Phillip Türmer forderte mit pathosverzerrter Mimik eine neue, „linke Volkspartei“ – und hatte damit zumindest irgendeine Idee. Offen blieb aber, was das außer radikaler Umverteilung wirklich bedeuten soll. Lars Klingbeil hingegen war vor allem damit beschäftigt, von seinem schlechten Wahlergebnis getroffen zu sein. Und Bärbel Bas spielte die gleiche, olle Schallplatte ab, mit der die SPD schon seit Jahrzehnten nicht vorankommt.
Sie sprach über „Aktionäre, die teilweise ein Vermögen in Milliardenhöhe haben“ und stellte diese den „Menschen in der Grundsicherung“ gegenüber – um dann unmittelbar danach die Politik des ständigen Ausspielens sozialer Gruppen gegeneinander zu kritisieren. „Sozialkahlschlag wird es mit mir nicht geben“, versprach sie, obwohl dieser nun wirklich nicht ansteht. Sozialdemokratisches Schattenboxen und Bewältigung des Schröder-Traumas – das reicht einfach nicht, um eine Partei aus dem Abwärts-Strudel zu führen.
Nun begibt sich die SPD mit neuem Schwung auf Sinnsuche, erarbeitet ein neues Grundsatzprogramm und versucht auf dem Weg dorthin, irgendwo die sozialdemokratische Vision einer solidarischen, demokratischen Gesellschaft wiederzufinden. Die Geiselhaft Deutschlands geht derweil weiter. Abseits von den Störungen der Sozialdemokraten kann weiterhin keine Politik umgesetzt werden.
Friedrich Merz entwickelt dabei ein Stockholm-Syndrom und erklärt die Stärkung der SPD sogar zum „Etappenziel“ seiner Kanzlerschaft. Das dürfte so manchen CDU-Wähler überraschen, der fälschlicherweise geglaubt haben könnte, mit einer CDU-Stimme dieses Mal ausnahmsweise keine SPD-Politik zu bekommen. Jetzt ist die selbstzentrierte Therapiestunde der Sozialdemokraten auch noch oberste Regierungsmaxime. Um das Land geht es dann irgendwann auch nochmal, wenn Zeit ist.
Erstmal muss jetzt Lars Klingbeil gerettet und umsorgt werden. Sonst könnte sich der SPD-Chef mit seinem schwachen Ergebnis vom Parteitag im Rücken noch zu Ausfallschritten in der Koalition gezwungen sehen, fürchtet man. Und man steht unter dem nicht ganz falschen Eindruck, Klingbeil als Partner zu brauchen. Vernünftigere Köpfe wird man in der SPD kaum finden.
In der Union stellt man sich schon auf ein sozialdemokratisches Jahrzehnt ein – weil man mit der AfD nicht koalieren kann oder will, hängt man sich an die SPD. Und liefert das Land auf Gedeih und Verderb den Sozialdemokraten mit ihrer Selbststörung aus. Das Ergebnis ist, dass die SPD nach diesem Wochenende noch mehr als ohnehin schon den Kurs der neuen Regierung bestimmen wird.
Auch Bärbel Bas, die nicht nur auf dem Parteitag den linken Populismus entdeckt hat, wird sicherlich ebenso darauf bedacht sein, auch im Ministeramt weiter linke Akzente zu setzen. Und der CDU so in die Parade zu fahren. Friedrich Merz will das alles mit sich machen lassen. Die Autorität des Kanzlers in seiner eigenen Koalition tendiert langsam gegen null.
Schattenkönig Klingbeil hat ihn ja jüngst etwa bei der Stromsteuer düpiert, sodass Merz direkt noch einen Kredit auf seine Glaubwürdigkeit aufnehmen musste – aber wer zählt da schon noch mit? In einem Anfall von alt-bundesrepublikanischer Kollegialität, die Klingbeil und die SPD ihm so niemals gewähren würden, macht der Bundeskanzler jetzt die sozialdemokratischen Interessen zu den seinen.
Die Rechnung in der Union ist dabei: Wir lassen das alles mit uns machen, um wenigstens unsere Migrationspolitik durchbringen zu können. Auch konservative Teile in CDU und CSU sind bereit, das zu schlucken. Ob sie damit nicht einen strategischen Fehler machen? Gemessen an dem, was man der SPD an Narrenfreiheit gewährte und offenbar noch zusätzlich zu gewähren bereit ist, beginnen auch die wenigen Unions-Erfolge in der Migrationspolitik zu verblassen, die zumindest handfest sind.
Die Bundesregierung richtet sich an parteipolitischen Interessen einer Partei aus, die im Krieg mit der Realität ist. Das hat der Parteitag in Berlin unterstrichen. Die SPD ist sich in nichts wirklich einig und weiß nicht, wo man politisch hinwill. Neue Ideen hat sie nicht. Nur im Entsorgen der unangenehmen Opposition ist man sich einig: Mit einem AfD-Verbot wird das alles in Ordnung kommen, ist sich die Führung sicher. Der Parteitag gibt dem Plan einstimmig seinen Segen.
In ihrer Sinnkrise hat die SPD nur noch dieses eine Ziel wirklich klar vor Augen. Das, so hofft man in der Partei wie auch darüber hinaus, wird wie ein Zauberspruch alle Probleme, auch die strukturellen der SPD, einfach lösen. Und die Millionen Wähler, die den etablierten Parteien abgewandert sind, werden dann brav zurückkehren. So zumindest die naive Wunschvorstellung der Sozialdemokraten.
Gemischt wird das mit dem geschichtlichen Pathos, den die SPD immer dann auspackt, wenn sie sonst nichts hat: „Es ist unsere historische Aufgabe, die Leute wieder aus dem Parlament zu kriegen, die gehören da nicht rein“, rief Lars Klingbeil seinen Genossen zu. Der Wähler hat das anders entschieden. Man wird ihm das in Zukunft verbieten müssen.
Eine SPD, die mit dem Rücken zur Wand steht, kannte bisher immer nur Destruktivität als Antwort – ob das nach diesem Parteitag anders sein wird? Friedrich Merz dürfte eine Lektion lernen, die die jüngste Geschichte schon erteilt hat: Die Bundesregierung aus Angst vor der SPD direkt vollständig den sozialdemokratischen Partei-Interessen zu unterwerfen, hat bei Angela Merkel schon nicht so richtig funktioniert.