
Mit einem aktuellen Schreiben zieht Innenminister Alexander Dobrindt die damalige Weisung seines Amtsvorgängers Thomas de Maizière zurück – eine politische Zäsur nach Jahren einer Politik offener Grenzen. Was viele für die Umsetzung von Asylrecht hielten, beruhte in Wahrheit auf einem Jahrzehnt der Rechtsmissachtung durch bloße mündliche Ministerworte. NIUS hat den Staatsrechtler Ulrich Vosgerau gebeten, die rechtliche Dimension der mündlichen Grenz-Anweisung von 2015 in einem Gastbeitrag zu beurteilen:
Er hat es also getan.
„Hiermit nehme ich die mündliche Weisung vom 13. September 2015 gegenüber dem Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums zurück. Die Anwendung der Regelung des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG führt dazu, dass Schutzsuchende [sic!] bei der Einreise aus einem sicheren Mitgliedstaat die Einreise verweigert werden kann“ [Hervorhebung im Original].
Innenminister Alexander Dobrindt mit dem Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums Dieter Romann (r).
So steht es offenbar in einem Schreiben des neuen Bundesinnenministers Alexander Dobrindt an den Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums Dieter Romann (also den Chef der Bundespolizei, die bis 2005 Bundesgrenzschutz hieß). Damit wird die – seit beinahe zehn Jahren nach Art eines allgemeinen Gesetzes behandelte, aber seither noch nicht einmal verschriftlichte Weisung des seinerzeitigen Innenministers Thomas de Maizière an Romann, trotz Wiedereinführung der Grenzkontrollen Personen, die (mit oder ohne Papiere) nach Deutschland einreisen wollen, um einen Asylantrag zu stellen, jedenfalls durchzulassen – zurückgenommen.
Vor zehn Jahren hatte der seinerzeitige Innenminister Thomas de Maizière verfügt, dass Personen, die (mit oder ohne Papiere) nach Deutschland einreisen wollen, um einen Asylantrag zu stellen, durchzulassen.
Wozu gleich zu sagen ist, dass Dobrindt – der das Wort „kann“ sogar noch einmal unterstreichen läßt – die deutsche Rechtslage nicht richtig wiedergibt. In § 18 Asylgesetz heißt es:
§ 18 Aufgaben der Grenzbehörde
(1) Ein Ausländer, der bei einer mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörde (Grenzbehörde) um Asyl nachsucht, ist unverzüglich an die zuständige oder, sofern diese nicht bekannt ist, an die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiterzuleiten.
(2) Dem Ausländer ist die Einreise zu verweigern, wenn
(3) Der Ausländer ist zurückzuschieben, wenn er von der Grenzbehörde im grenznahen Raum in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit einer unerlaubten Einreise angetroffen wird und die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen. [...]
„Sichere Drittstaaten“ sind dabei alle deutschen Nachbarländer. Die Vorschrift konkretisiert damit Artikel 16a des Grundgesetzes, der 1993 als Ergebnis des „Asylkompromisses“ zwischen CDU/CSU, SPD und FDP ins Grundgesetz eingefügt worden war. Dieser lautet:
Artikel 16a [Asylrecht]
(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
(2) 1Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. [...]
Eine Polizeikontrolle an einer Außengrenze Deutschlands.
Ursprünglich hatte Innenminister de Maizière im September 2015 eine wirkliche „Grenzschließung“ zur Durchsetzung der deutschen Rechtslage an den deutschen Grenzen (die freilich zumeist EU-Binnengrenzen, im übrigen Binnengrenzen des Schengen-Raumes sind) anordnen wollen. Von diesem Vorhaben ist er dann in letzter Minute aufgrund eines Telefongesprächs – vermutlich mit Bundeskanzlerin Merkel, die ihrerseits vom Koalitionspartner SPD unter Druck gesetzt worden sein könnte – wieder abgerückt. Den Hintergründen dieses Vorgangs ist Robin Alexander in seinem Buch „Die Getriebenen“ (1. Aufl. 2017, S. 24 f.) nachgegangen.
Politische Gegner behaupten nun – nicht anders als etwa die Nachbarländer Polen und Österreich, die von einer Zurückweisungspolitik unmittelbar betroffen sind – eine Zurückweisung von Asylbewerbern an der Grenze widerspreche dem Unionsrecht. Nach dem Unionsrecht sei vielmehr das „Dublin-Verfahren“ (benannt nach der Dublin-III-Verordnung über die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten in Asylfragen und ihre jeweilige Zuständigkeit) durchzuführen. Das heißt, der Asylbewerber sei erst einmal einzulassen, damit festgestellt werden könne, welches EU-Land eigentlich für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig sei, und in dieses sei er dann zurückzuschaffen.
Das „Dublin-Verfahren“ ist für Deutschland höchst kompliziert umzusetzen.
Der Versuch, sich hieran zu halten, führt in Deutschland zu unlösbaren Schwierigkeiten. Selbst, wenn der Einreiseweg eines Asylbewerbers, dessen Identität nach routinemäßigem Wegwerfen seiner Papiere, was eine Abschiebung verhindert, ohnehin immer unklar ist, recherchiert werden kann, lehnen deutsche Verwaltungsgerichte häufig eine Rückverbringung nach Italien oder Griechenland ab. So zum Beispiel weil in Griechenland die Unterbringung der Asylbewerber menschenunwürdig sei oder weil in Italien ihre Kinder nicht unverzüglich staatliche Schulen besuchen dürften. Genehmigen hingegen deutsche Verwaltungsgerichte die Rückführung in das Ersteinreiseland, lehnt dieses die Rücknahme ab: es seien schon wieder so viele neue Asylbewerber nachgekommen, man habe gar keine Kapazitäten mehr! Und nach einem halben Jahr geht die Asylzuständigkeit nach der Dublin-III-Verordnung dann ohnehin auf Deutschland über.
Aus deutscher Sicht ist zu beklagen, dass Staaten wie Italien und Griechenland die Asylbewerber einfach durchreisen lassen. Aus deren Sicht kommen die Asylbewerber nur nach Europa, weil sie in Deutschland so großzügige Sozialleitungen erhalten und Familiennachzug in Aussicht steht.
Ankunft afrikanischer Flüchtlinge in Spanien
Was stimmt nun?
In der Tat gibt es einen Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht, sogar dem Verfassungsrecht. Beim „Anwendungsvorrang“ wird eine Rechtsvorschrift nicht etwa für nichtig erklärt, sondern ihre Anwendung tritt zurück, wenn diese im Einzelfall (!) unionsrechtlichen Vorgaben widersprechen würde. Es müßte also jeder Einzelfall untersucht werde, ein pauschales Hereinlassen von tausenden von Asylbewerbern am Tag kann gar nicht vom Unionsrecht gefordert werden, sondern lediglich eine Prüfung von Einzelfällen im Geiste des Unionsrechts. Vor allem gilt: noch nie konnte ein Vertreter der Theorie „Wir müssen alle erstmal reinlassen, wenn sie ‚Asyl‘ sagen“ – die in Deutschland seit 2018, also erst geraume Zeit nach der „Großen Grenzöffnung“, von Daniel Thym bekanntgemacht wurde – konkret eine Vorschrift es Unionsrechts nennen, aus der die Nichtanwendbarkeit von Art. 16a Abs. 2 Grundgesetz und § 18 Abs. 2 Asylgesetz folgen soll. Es scheint sich, wenn überhaupt, allenfalls um eine Art „Unionsgewohnheitsrecht“ zu handeln. Auch der eben zitierte Satz vom „Anwendungsvorrang“ des Unionrechts steht nirgendwo im Vertrag von Lissabon geschrieben (!), sondern entstammt der ständigen Rechtsprechung des EuGH sei 1963, die von den EU-Mitgliedstaaten allgemein akzeptiert worden ist.
Die bereits genannte Dublin-III-Verordnung regelt über die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Asylrecht im wesentlichen folgendes: (1) Ein EU-Mitgliedstaat muß einen Asylbewerber als Ersteinreisestaat erst einmal hereinlassen und sein Asylbegehren prüfen. (2) Der Asylbewerber hat im zuständigen Ersteinreisestaat zu verbleiben, er darf nicht in Europa herumreisen und sich einen Asylstaat selbst aussuchen. (3) Der Asylantrag wird nach dem materiellen, nationalen Asylrecht des Ersteinreisestaats entschieden, ein „europäisches Asylrecht“ gibt es eigentlich nicht, die Dublin-III-Verordnung regelt vor allem Zuständigkeiten und Fristen.
Der Umstand, dass diese Vorgaben der Dublin-III-Verordnung überhaupt nur umgesetzt werden können, wenn Asylbewerbern der Grenzübertritt nicht gestattet wird, spricht jedenfalls dagegen, dass das Unionsrecht, und sei es auch nur gewohnheitsrechtlich, zugleich verlangen sollte, jeder Asylbewerber müsse ins Land seiner Wahl eingelassen werden. Ungarn hatte im Sommer 2015 versucht, die Dublin-III-Richtlinie umzusetzen und entsprechend die Asylbewerber aus Syrien an der Weiterreise nach Deutschland gehindert; das Ergebnis waren dann die unschönen Fernsehbilder vom Hauptbahnhof in Budapest, wegen derer man Ungarn dann eine Verletzung „europäischer Werte“ (aber nicht: Rechtsnormen!) vorwarf. Die dann von Angela Merkel propagierte Lösung – alle Syrer (einschließlich nur angeblicher Syrer) reisen durch Österreich nach Deutschland weiter – entsprach ganz gewiß nicht dem Unionsrecht.
Im Sommer 2015 kam es auf dem Hauptbahnhof in Budapest zu unschönen Szenen, wegen derer man Ungarn dann eine Verletzung „europäischer Werte“ vorwarf.
Die Lage ist vertrackt. Ein System der offenen Binnengrenzen ohne systematische Kontrollen oder gar bauliche Grenzbefestigung gegen unberechtigte Übertritte, wie laut „Schengen“-Regime eigentlich vorgesehen, würde eine systematische Befestigung und Überwachung der EU-Außengrenzen voraussetzen. Im Zeichen einer neuen Völkerwanderung wäre auch der Anspruch eines jeden Asylbewerbers auf Zugang jedenfalls zum Ersteinreisestaat (wenn auch nicht nach Deutschland) abzuschaffen. Dieser Anspruch wurde erst unlängst durch den EuGH gegen Ungarn durchgesetzt, zugleich hat Finnland seine EU-Außengrenze nach Rußland auch für Asylbewerber geschlossen, ohne dass dies die EU irgendwie stören würde. Auch ist die EU-Binnengrenze zwischen Frankreich und Italien längst für Asylbewerber geschlossen worden, ohne daß dies irgend jemanden zu stören scheint; nur eine entsprechende Schließung auch deutscher EU-Binnengrenzen wird nun wieder als vermeintlicher Rechtsbruch beschrien.
Ganz Europa hat sich eben daran gewöhnt, dass man auch gegen millionenfache illegale Einwanderung nicht übermäßig viel unternehmen muss, weil die illegalen Einwanderer dann ja ungehindert nach Deutschland weiterziehen und dort in den Sozialstaat integriert werden. Freilich weisen – wie bereits erwähnt – die betroffenen Ersteinreisestaaten darauf hin, die Völkerwanderung würde überhaupt nur anrollen, weil Deutschland mit Sozialleistungen locke und sogar noch „Seenotretter“ steuerlich mitfinanziere – es sei also nur gerecht, wenn Deutschland dann alle Asylbewerber auch nehme. Die Träume deutscher Politiker von einem wirklichen europäischen Asylsystem mit nationalen Aufnahmequoten sind völlig irreal, da es keine Asylbewerber gibt, die nach Bulgarien, Rumänien oder auch nur nach Polen wollen; die diesen Ländern „gesamteuropäisch“ zugewiesenen Asylbewerber (einmal davon abgesehen, dass diese sie auch nicht haben wollen!) müssten dort offenbar in Gefängnisse gesperrt werden, weil sie sonst auf der Stelle versuchen würden, nach Deutschland (bzw., in einem gewissen Umfang, auch nach Österreich, die Niederlande oder Schweden) auszureisen.
In Europa hat man sich eben daran gewöhnt, dass man auch gegen millionenfache illegale Einwanderung nicht übermäßig viel unternehmen muss, weil die illegalen Einwanderer ja ungehindert nach Deutschland weiterreisen können.
Fazit: Eine sofortige Schließung der deutschen Grenzen auch und gerade für Asylbewerber – so, wie sie das geltende Recht seit vielen Jahren vorsieht, worüber man sich aber seit September 2015, und zwar nur aufgrund einer mündlichen Weisung des damaligen Innenministers, bewusst hinweggesetzt hat – ist sachlich erforderlich und dürfte schwerlich gegen das Unionsrecht verstoßen. Perspektivisch wird in Zeiten einer neuen Völkerwanderung auch eine Sicherung der deutschen Grenzen auch durch technische und bauliche Maßnahmen unvermeidlich sein; die eigentlich wünschenswerte Sicherung der EU-Außengrenzen gegen unerwünschte Einwanderung bleibt wohl illusorisch.
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