Neue „Demokratie“: Nicht der Wähler, der Richter entscheidet

vor 28 Tagen

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Bildquelle: Tichys Einblick

Alles ist relativ, wissen wir seit Einstein – auch die Demokratie. In den letzten vier Monaten haben drei Nato-Länder, darunter zwei EU-Mitglieder und ein EU-Beitrittskandidat, in die Trickkiste autoritärer Regime gegriffen, um die jeweilige Regierung an der Macht zu halten – weil die Gefahr bestand, dass die Wähler lieber etwas anderes hätten.

Das rumänische Verfassungsgericht erklärte am 6. Dezember 2024 eine bereits erfolgte und von ihm selbst validierte Präsidentschaftswahl für ungültig, nachdem der nationalistische, Nato- und EU-kritische Kandidat Calin Georgescu überraschend die erste Runde dieser Wahl gewonnen hatte und auch in der Stichwahl Chancen auf den Sieg zu haben schien.

Am 18. März wurde Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der Universität Istanbul sein Hochschuldiplom aberkannt. Ein solches Diplom ist Bedingung für eine Präsidentschaftskandidatur. Tags daruf wurde Imamoglu verhaftet und am 23. März in Untersuchungshaft genommen – wegen Verdachts auf Korruption und „Unterstützung einer Terrororganisation” (die kurdische PKK).

Die türkischen Behörden warnten Journalisten, keine voreiligen politischen Schlüsse aus den Vorgängen zu ziehen, denn die Türkei sei ein Rechtsstaat und die Justiz unabhängig. Viele Beobachter hegen daran leise Zweifel.

Am 31. März wurde Marine Le Pen, die Vorsitzende des nationalkonservativen Rassemblement National in Frankreich, von einem Pariser Gericht der Zweckentfremdung von EU-Geldern für schuldig befunden. Zwei Jahre Hausarrest mit Fußfessel, zusätzlich zwei Jahre Haft auf Bewährung, 100.000 Euro Geldstrafe, vor allem aber: Entzug des „passiven Wahlrechts” auf fünf Jahre. Das heisst: Sie darf bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2027, bei denen sie nach derzeitigem Stand gute Chancen auf einen Sieg hätte, nicht kandidieren. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie aus EU-Geldern bezahlte Mitarbeiter ihrer Fraktion im Europaparlament teilweise für Parteiaufgaben in Frankreich verwendete. Auf diese Weise seien EU-Mittel zweckentfremdet worden. (Das ist etwas, was bei vielen Parteien im EU-Parlement passiert). Zu der Zeit (bis 2017) litt das RN unter Geldproblemen, unter anderem deswegen, weil französische Banken sich weigerten, ihr Kredite zu gewähren.

Das Urteil wurde von vielen Beobachtern als unverhältnismäßig hart kritisiert, besonders die Tatsache, dass die Berufung dagegen keine aufschiebende Wirkung hat. Obwohl das Urteil also formal nicht rechtskräftig ist, wird es de facto sofort umgesetzt, ohne auf das Ergebnis des Berufungsverfahrens zu warten. Dieses dürfte wegen „Überlastung der Gerichte” lange auf sich warten lassen und nicht rechtzeitig vor den Wahlen 2027 abgeschlossen werden.

Dass all dies strukturell sehr ähnliche Vorgänge in vier Ländern sind, die im weitesten Sinne dem „Westen” zugerechnet werden, wird durch den Umstand verdeckt, dass die Geschehnisse je nach politischer Neigung unterschiedlich rezipiert werden. Liberale, die sich freuen, dass die „rechten” Kandidaten Georgescu und Le Pen endlich politisch ausgeschaltet wurden, beklagen das Vorgehen gegen den liberalen Imamoglu als perfides Vorgehen des „Erdogan-Regimes”. Und Konservative, die das Vorgehen gegen Georgescu und Le Pen als „undemokratisch” verurteilen, scheuen sich, in der Affaire um Imamoglu Erdogan anzugreifen. Hinzu kommt, dass es Länder mit sehr unterschiedlicher demokratischer Tradition sind. Rumänien und die Türkei sind relativ junge Demokratien mit einer langen machtherrschaftlichen Tradition. Im Westen tendiert man dazu, bei demokratisch zweifelhaften Winkelzügen in Rumänien oder der Türkei ein Auge zuzudrücken und zu denken: Naja, Rumänien, Türkei, was erwartet man anderes.

Die USA (mit den politisch gefärbten Verfahren gegen Trump) und Frankreich hingegen sind, zusammen mit England, die Ursprungsländer der westlichen Demokratie. Apropos England: Was wird dort wohl passieren, wenn eine Situation entsteht, in der Nigel Farage die nächsten Wahlen gewinnen könnte? Den klaren Blick aufs Wesentliche verstellt auch die Tatsache, das keiner der betroffenen Politiker ganz unschuldig ist. Trump hat in der Tat regelwidrig Schweigegeld zahlen lassen an eine Pornodarstellerin. Georgescu hat in der Tat angegeben, keine Wahlkampfkosten gehabt zu haben, in Wirklichkeit aber hat er sehr wohl Geld dafür ausgeben müssen. Marine Le Pen hat allem Anschein nach tatsächlich EU-parlamentarische Assistenten für innenpolitische Arbeit verwendet. Und Imamoglu hat eine Baufirma und ist Bürgermeister von Istanbul, wo viel gebaut wird. Dort ganz auf Vorteilnahme verzichtet zu haben, würde praktisch der türkischen Kultur widersprechen.

Aber dass er eine Terrororganisation unterstützt haben soll, und dass Georgescu seinen Erfolg russischer Einmischung zu verdanken hat, ist unbewiesen und zweifelhaft.

Es ist dennoch, trotz aller Unterschiede, in allen Fällen ein und dieselbe Sache. Hier wurden Präzedenzfälle geschaffen (oder versucht zu schaffen, in Trumps Fall), dank derer künftig in jeder Demokratie der EU und des atlantischen Bündnisses Gerichte den Wählerwillen unterbinden können, wenn die Umstände es politisch zu erfordern scheinen.

Die Überzogenheit der Gerichtsurteile (in Marine Le Pens Fall die Tatsache, dass ihre Berufung den Urteilsvollzug nicht aufschiebt) und ihr Timing verrät, dass hier eine politische Absicht im Spiel war. Ob durch direkte politische Intervention einer inländischen oder gar ausländischen Macht (im Falle der Rumäniens spricht viel dafür, dass die USA intervenierten) oder durch politische Voreingenommenheit der Richter. Ja, so etwas soll es tatsächlich geben, auch bei deutschen Verfassungsrichtern.

Checks and Balances? Zum Glück ist da ja die EU, die Rechtstaatlichkeit zum Heiligen Prinzip erhoben hat, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der darüber wacht. Dass aber in Rumänien eine bereits erfolgte und validierte Wahl unter Berufung auf eine zwar prinzipiell denkbare, aber durch nichts bewiesene „russische Einflussnahme” storniert wurde, rief in Brüssel keinerlei Reaktion hervor, und auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah kein Problem. Allem Anschein nach wurde also die in der Demokratie prinzipiell politisch unabhängige Justiz in diesen Ländern sehr wohl entweder als Instrument der Politik missbraucht, oder aber die Richter selbst machten de facto Politik, statt restriktiv nur Recht zu sprechen.

Nun freuen sich viele, dass Le Pen und Georgescu verhindert wurden. Viele hätten sich gefreut, wenn auch Trump so ausgeschaltet worden wäre (oder gar ermordet).

Demnächst verhindert man so vielleicht Alice Weidel oder Nigel Farage. Aber die Mittel, die da eingesetzt werden, um „unsere Demokratie” zu retten, sind undemokratisch.

Und das bedeutet: Es kann eine Zeit kommen, da ganz andere Kräfte an der Macht sind. Und dieselben Mittel benutzen. Was dann? Die Spielregeln, die einst galten, gelten nicht mehr.

Helfen wird es wahrscheinlich auch nicht. Die von den alten Eliten als Bedrohung wahrgenommene politische Umwälzung – das veränderte Verhalten der Wähler – kann nur als Resultat einer tiefen gesellschaftlichen Transformation verstanden werden, die nicht dadurch rückgängig gemacht werden kann, dass man ihre Galionsfiguren wegsperrt.

Eigentlich ist es eine Funktion der Demokratie, bei gesellschaftlicher Transformation einen friedlichen politischen Machtwechsel zu ermöglichen, ohne Blutvergiessen. Diesen Mechanismus zu behindern oder gar auszuschalten, ist gefährlich.

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