
Nur noch sechs Tage bis zur Bundestagswahl. Gewählt werden kann schon. In dieser Hochphase des Wahlkampfes nehmen die Gespräche am Küchentisch, am Arbeitsplatz, unter Freunden und in den sozialen Medien zu. „Und, wen wählst du?“ Diese Frage wird gerade in verschiedenen Varianten millionenfach gestellt. Doch ist sie überhaupt relevant?
Wählen gehen ist wichtig. Vorher die Politik verfolgen, Parteiprogramme lesen, gut informiert sein, das ist die demokratische Pflicht eines jeden Staatsbürgers. An der Wahlurne kann jeder seine Meinung kundtun. Wer nicht wählen geht, soll sich auch nicht beschweren.
Sätze wie diese haben zig Millionen Deutsche fest verinnerlicht, auch wenn so gut wie niemand Parteiprogramme liest. In Wahlkampfzeiten wird die Frage, was der Nachbar, der Partner, die Freunde und die Arbeitskollegen wählen, vielfach zu einem Horoskop hochgejazzt. Bist du Widder oder Steinbock? Wählst du Grüne oder CDU? Und was sagt das über deine Persönlichkeit aus?
Für wen entscheidet sich wohl mein Nachbar?
Diese Demokratie-Astrologie dient aber nicht nur der Bewertung anderer Menschen, sondern häufig auch der Bewertung der eigenen Person. Millionen Menschen ketten sich nahezu an eine Partei, machen sie zu ihrer Persönlichkeit, ziehen für sie in die rhetorische Schlacht, hoffen und fiebern mit ihr mit, als wäre sie ihr liebstes Fußballteam. Bei manchen Parteien mehr, bei manchen Parteien weniger.
Gerade politisch informierte Menschen machen sich vor Wahlen gerne selbst fertig. Sie schwanken zwischen Parteien, zweifeln nach jedem dämlichen Halbsatz eines Politikers an ihrer ursprünglichen Festlegung, versuchen alle Variablen zu bedenken, die Performance der Partei in der Vergangenheit zu beachten, gleichzeitig aber die Zukunft vorherzusehen. Wozu all der Stress?
Worum geht es beim individuellen Wahlgang? Geht es um die Rettung der Demokratie oder gar die Rettung Deutschlands? Nein, es ist statistisch völlig irrelevant, was der Einzelne am Wahlsonntag macht. Ob er zuhause bleibt oder auf den Wahlzettel „Steuern sind Raub“ schreibt oder irgendeine Partei wählt. Es gibt kein einziges Beispiel einer nationalen Wahl, bei der wenige Stimmen den Unterschied gemacht hätten. Aber ich höre schon das Gegenargument.
„Was, wenn alle so handeln würden? Dann würde die Demokratie untergehen!“ Wenn alle Physiker werden, würden auch sämtliche Menschen verhungern, das ist kein sinnvoller Einspruch gegen das Verhalten von Einzelnen. Und auch das Argument, dass Millionen Menschen im Kampf für die Demokratie ihr Leben gelassen haben, ist keines. Diese Leute sind für das Wahlrecht gestorben, nicht für die Wahlpflicht. Eine Wahlpflicht ist grundsätzlich ein Instrument von totalitären Staaten. Ganz wenige freiheitliche Länder existieren, in denen es tatsächlich eine Wahlpflicht gibt, allerdings liegen dort die Sanktionen fürs Nichtwählen nur im Bereich von wenigen Euros.
Am Wahlsonntag geht es für den einzelnen Wahlberechtigten nur um eine einzige Frage: Gibt es eine Partei, die ich wählen kann, ohne danach mit Bauchschmerzen nach Hause gehen zu müssen? Wird so eine Frage verneint, ist es urdemokratisch nicht wählen zu gehen. Die Wahl ist wie eine Art Gottesdienst. Bringt der mir persönlich kein gutes Gefühl, gehe ich nicht hin, der Pastor wird trotzdem reden. Genauso wird die Wahl trotz der individuellen Nichtwahl so ausgehen wie sie ohnehin ausgegangen wäre.
Niemand sollte also zu hart mit sich selbst ins Gericht gehen. Vor allem sollte niemand Mitmenschen Vorwürfe machen, weil sie aus seiner Sicht die Falschen wählen. Das geschieht leider ständig. Dabei ist die Politisierung des Alltags, von persönlichen Beziehungen, ein Merkmal totalitärer Gesellschaften.
Viel zu viele Menschen fangen in Wahlkampfzeiten an, ihr Umfeld zu kategorisieren. Wer wählt was? Wer könnte was wählen? Wer ist verdächtig? Es werden Grenzen gezogen, Verurteilungen ausgesprochen, hitzige Streitereien angefangen. Mit religiösem Eifer wird die Schablone an Freunde, Kollegen, Familienmitglieder und Bekannte angelegt. Oftmals von Menschen, die sonst nie mit besonderer politischer Diskussionsfreude hervorstechen.
Am 23. Februar sind Millionen Deutsche zur Wahl aufgerufen.
Schon die Charakterbewertung von Menschen anhand ihrer politischen Ansichten ist in den allermeisten Fällen großer Unfug, wenn dann sogar nur noch die Wahlentscheidung oder lediglich die vermutete Wahlentscheidung als Maßstab herangezogen wird, befindet man sich endgültig auf dem intellektuellen Holzpfad.
Wir alle haben nur wenige und ehrlicherweise ziemlich schlechte Parteioptionen zur Auswahl. Wir alle können nicht in die Zukunft oder in die Köpfe der Politiker blicken. Jede Partei hat mindestens zwei Flügel, bei denen es als normaler Außenstehender fast unmöglich ist, zu überblicken, welcher in Zukunft tonangebend sein wird.
Wir haben außerdem in den letzten Jahren erlebt, dass nach der Wahl oftmals das Gegenteil des „Wählerwillens“ herauskam. Kein Wähler von Schwarz-Gelb hat 2009 für den Kernenergieausstieg gestimmt. Kein Wähler hat 2013 hat für die Grenzöffnung zwei Jahre später gestimmt. Kein Wähler hat 2021 bewusst für 2G oder die Impfpflicht für Pflegepersonal votiert. Wie kann man angesichts dieser Menge an Unvorhersehbarkeiten einem einzelnen Menschen dessen Wahlentscheidung vorwerfen?
Die politische Öffentlichkeit und politisch besonders engagierte Bürger überschätzen auch oft maßlos, wie viele Gedanken sich ganz normale Menschen bei der Wahl machen. Ich möchte drei Beispiele anführen, um das zu verdeutlichen.
In einer aktuellen Doku des WDR über den Wahlkreis Duisburg II mit den Namen „Armut, Absturz, AfD? So wählt der Brennpunkt“ kommt eine Friseurin zu Wort. Sie habe schon einen Test gemacht, gemeint ist wohl der Wahlomat. Rausgekommen sei die FDP. Die würde sie aber keinesfalls wählen. Stattdessen wird die Dame die Linke wählen. Nun ist der Wahlomat keineswegs perfekt und hat viele Schwächen. Er beschäftigt sich nur selektiv mit der Programmatik, ignoriert reales Abstimmungsverhalten und politisches Personal, aber dass eine Frau, die rein programmatisch die größte Übereinstimmung mit der FDP hat, die Mauermörderpartei wählen wird, lässt sich eher nicht rational erklären.
In derselben Doku teilt eine andere Frau auf die Nachfrage, was sie denn an der AfD- Kanzlerkandidatin gut fände, zuallererst mit, dass Alice Weidel „attraktiv“ und nicht so „hässlich“ wie Angela Merkel wäre. Sie vertrete „schöne deutsche Frauen“. Das sei zwar nicht das Wichtigste, aber doch relevant.
Plötzlich wählen mehr Leute die AfD.
Ein Freund von mir ist Sozialarbeiter. Seit Jahren arbeitet er mit Asylanten. Schon immer war er links und hat links gewählt. Er ist immer noch links, aber auch enttäuscht von der politischen Linken. Sie habe nie seine Arbeitsbedingungen verbessert, sie habe nichts für ihn erreicht. Jetzt denkt er darüber nach, AfD zu wählen. Warum? Weil sein wichtigstesThema im Jahr 2025 ist, dass er in Ruhe sein Auto tunen darf und er sich von allen anderen Parteien bei seinem Hobby gegängelt führt.
Ein Linker, der vielleicht die AfD wählt, wegen Tuning. Eine programmatische Liberale, die die Linke wählt, wegen ihrem Bauchgefühl. Eine Frau, die die AfD wählt, wegen schönen Frauen. Wenn das nicht beweist, wie wenig man Wähler pauschal mit der von ihnen gewählten Partei in einen Topf werfen kann, weiß ich auch nicht weiter.
Mir ist egal, wen mein Nachbar, mein Bruder, mein Kollege oder meine Freundin wählt. Parteien dürfen nicht zu unserer Identität werden. Der deutsche Staat zerstört schon so viel, wir sollten ihn nicht auch noch unseren Alltag vergiften lassen. Der Gegner steht nicht am Zaun und sitzt nicht am Küchentisch, sondern redet im Parlament. Der Wahlsonntag ist wichtig für das Land, die einzelne Wahlentscheidung könnte irrelevanter kaum sein. Es täte allen gut, wenn Politik im Privatleben genauso wenig eine Chance gegeben wird wie der weitaus ungefährlicheren Droge Crystal Meth.