
Die Bundestagsverwaltung ließ kürzlich im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, einem der vier Dienstgebäude des Deutschen Bundestages, ein Plakat aufhängen. Darauf zu lesen: „Wir (alle) sind das Volk.“ Die Wortgruppe steht in verschiedenen Sprachen zwölfmal untereinander, schwarz auf weiß, in verschiedenen Schriftarten, umrandet von einer Regenbogenflagge. Von oben nach unten finden sich auf dem Plakat die Sprachen Arabisch, Bulgarisch, Deutsch, Englisch, Persisch (Farsi), Französisch, Kroatisch, Polnisch, Russisch, Rumänisch, Äthiopisch (Tingrinya) und Türkisch.
Das Plakat hängt am Marie-Elisabeth-Lüders-Haus.
Das Motiv ist eine Installation des deutschen Konzeptkünstlers Hans Haacke, der seit den 1960er Jahren in New York lebt. Erstmals wurden die Plakate 2017 auf der Documenta 14 in Kassel und Athen gezeigt, später ließ sie Haacke auch in den neuen Bundesländern aushängen. Laut dem Künstler geht es um „die Anerkennung von kultureller Vielfalt und diverser Lebensformen über ethnische und staatliche Grenzen hinweg“.
In der Ankündigung zu einer Kunstausstellung Haackes heißt es über das Plakat: „Es bezieht sich originär auf den Slogan ostdeutscher Demonstrant*innen der Montagsdemonstrationen von 1989/90 und betont die Verbundenheit aller Menschen, Migrant*innen und Geflüchteten.“
Das Plakat weist somit auf eine symbolische Umdeutung hin, die sich in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten etabliert hat. Nicht das deutsche Volk gilt als die Bestimmungsgröße der Politik, sondern „alle“ Menschen, die in Deutschland leben. Dabei ist das Volk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, eigentlich eine eng umfasste Kategorie.
Der Konzeptkünstler Hans Haacke wurde in Köln geboren.
Es wird nach dem Grundgesetz von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 gleichgestellten Personen gebildet. Damit widerspricht die in den Räumlichkeiten des Deutschen Bundestages gezeigte Stehle ganz offen dem Grundgesetz, laut dem nur deutsche Staatsbürger und eben nicht „alle“ das Volk bilden.
Der Künstler Hans Haacke ist dem Bundestag schon seit längerer Zeit verbunden, insbesondere durch eine im Jahr 2000 errichtete Installation im nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes. Seitdem ist dort die Inschrift „DER BEVÖLKERUNG“ zu sehen. Das Kunstprojekt wurde von Haacke als bewusster Gegensatz zur Inschrift auf dem Westportal des Reichstags konzipiert. Dort ist bekanntlich „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ zu lesen.
Im Jahr 2000 wurde diese Kunstinstallation im nördlichen Lichthof des Reichstags aufgestellt.
Das vermeintlich reaktionäre Wort „Volk“ sollte auch hier hinter sich gelassen, der kulturelle Bruch durch den Tausch „Volk – Bevölkerung“ spürbar werden – passend zur bunten „Einwanderungsgesellschaft“, die seit geraumer Zeit in Politik und Medien propagiert wird. Als Schrifttype nutzte der gebürtige Kölner und Wahl-New-Yorker dieselbe Schrifttype, die der Architekt Peter Behrens 1916 für seine am Reichstagsgebäude angebrachte Inschrift entworfen hatte.
Im Bundestag gibt es seit dem 25. Juli eine Dokumentationsausstellung zum 25-jährigen Jubiläum der „BEVÖLKERUNGS“-Installation. Auf der Seite des Bundestages heißt es 25 Jahre später aufklärerisch: „Haacke problematisierte damit den mit der Idee der homogenen Nation verbundenen Begriff ‚Volk‘, der im Gegensatz zur heterogenen Lebensrealität einer aus vielen Herkunftsländern stammenden Bevölkerung steht.“
In Rahmen des Jubiläums wurde auch die Stehle „Wir (alle) sind das Volk“ in den Räumlichkeiten des Deutschen Bundestags aufgestellt. Auf Anfrage von NIUS will die Bundestagsverwaltung zum Inhalt keine Stellung nehmen: „Im Forum Kunst im Deutschen Bundestag wird – wie der Name impliziert – klar erkennbar Kunst von verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern präsentiert. Die erfolgten und ausgestellten künstlerischen Leistungen werden dabei von der Bundestagsverwaltung weder eingeordnet noch bewertet.“
Erstmals wurden die Plakate bei der Documenta 14 in Kassel gezeigt.
Im Dezember 1999 gab Haacke ein Interview, in dem er den Begriff des Volkes mit rassistisch motivierten Gewalttaten in unmittelbaren Zusammenhang stellte. „Der Volksbegriff ist – insbesondere in der Wortkombination ‚deutsches Volk‘, die eine mythische, ausgrenzende Stammeseinheit impliziert – mit einem radikal undemokratischen Verständnis der res publica assoziiert. Es ist dieses spätestens seit der Invasion der Römer dubiose Ahnenpassdenken, das den Verbrechen der ‚Volksgenossen‘ den Weg bereitet hat. Und es ist dieser eine Blutsgemeinschaft suggerierende Volksbegriff, der immer noch Unheil stiftet, wie es Wahlergebnisse und rassistisch motivierte Gewalttaten belegen.“
Haacke also lehnte die Vorstellung eines deutschen Volkes radikal ab – er bildete die künstlerische Avantgarde für eine Entwicklung, die sich auch in der Politik fortsetzte. Nicht die Deutschen, sondern „wir (alle) sind das Volk“, lautet nun das Mantra, das einem auch im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus eingetrichtert wird – bunt leuchtend in Regenbogenfarben, aufgeschrieben in zwölf Sprachen.
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