Nach dem Regierungsbeben in Frankreich: Wie Justiz und Parteien Marine Le Pen stoppen wollen

vor 5 Monaten

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Bildquelle: NiUS

Mit einem Paukenschlag hat die französische Nationalversammlung am Mittwoch Premierminister Michel Barnier und seine Minderheitsregierung durch ein Misstrauensvotum gestürzt. 331 Abgeordnete – eine deutliche Mehrheit – stimmten für den Antrag, der vom Linksbündnis Nouveau Front populaire eingebracht wurde, dem aber auch Marine Le Pen und ihr Rassemblement National (RN) ihren Segen gaben. Präsident Emmanuel Macron hat den Rücktritt von Barnier bereits akzeptiert und sucht nun nach einem Nachfolger.

Michel Barnier kurz vor dem Misstrauensvotum am Rednerpult der französischen Nationalversammlung.

Damit wurde zum ersten Mal seit 62 Jahren ein französisches Kabinett durch ein Misstrauensvotum gestürzt. 1962 war es der damalige Premierminister Georges Pompidou, dessen Regierung an einem Streit über die Einführung der Direktwahl des Präsidenten scheiterte. Damals löste Präsident Charles de Gaulle das Parlament auf und rief Neuwahlen aus. Doch die heutige Lage unterscheidet sich grundlegend von derjenigen des Jahres 1962. Damals gewann de Gaulle nach der Parlamentsauflösung eine absolute Mehrheit und konnte danach durchregieren. Heute steht Macron ein fragmentiertes Parlament und eine wachsende Opposition gegenüber, angeführt von Marine Le Pen, die nach vielen Rückschlägen die Gelegenheit genutzt hat, der Regierung eine Lektion in Sachen Demokratie zu erteilen.

Der Hintergrund aller Probleme aber ist, wie so oft, das schnöde Geld. Von dem hat der französische Staat seit den Corona-Jahren viel zu wenig.

Frankreich erlebt die größte Schuldenkrise des Staates seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Staatsverschuldung Frankreichs hat 2024 die Marke von unfassbaren 3.200 Milliarden Euro erreicht und entspricht damit 110 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Absolut ist das die höchste Staatsverschuldung in Europa. Seit 1974 gab es in Frankreich keinen ausgeglichenen Haushalt mehr. Die Franzosen leben Jahr für Jahr über ihre Verhältnisse. In diesem Jahr wird das Haushaltsdefizit (die Differenz zwischen den jährlichen Staatseinnahmen und Staatsausgaben als Prozentsatz vom BIP) spektakuläre sechs Prozent vom BIP betragen (in Deutschland sind es 1,75 Prozent). Diese sechs Prozent sind das Doppelte dessen, was 1992 im Vertrag von Maastricht für die EU-Mitgliedsstaaten festgelegt wurde.

Für diesen Schuldenberg zahlt der französische Staat (und seine Bürger) pro Jahr 45 Milliarden Euro an Zinsen. Das entspricht exakt dem Verteidigungsetat und erklärt ganz nebenbei, warum die französischen Verteidigungsausgaben seit Jahrzehnten nie die von der NATO (und speziell von Donald Trump) verlangten zwei Prozent des BIP erreichten.

Zum Vergleich: Auch Deutschland steckt in einer wirtschaftlichen und fiskalischen Dauerkrise fest, dennoch stehen wir um einiges besser da als die Franzosen. Obwohl das deutsche BIP 2024 um 1.000 Milliarden Euro höher als das französische sein wird, beträgt unsere Verschuldung „nur“ 2.460 Milliarden Euro (63,5 Prozent vom BIP), wofür wir in diesem Jahr 15 Milliarden Euro an Zinsen zahlen werden, was knapp an die Ausgaben des Bundesministers für Gesundheit (16,4 Milliarden Euro) heranreicht.

Während in Deutschland Staatsschuld und Zinszahlungen also noch einigermaßen beherrschbar erscheinen, sind beide Werte in Frankreich längst aus dem Ruder gelaufen. Was die Staatsfinanzen angeht, brennt Frankreich wie die Kathedrale Notre-Dame vor fünf Jahren. Denn: Die Finanzierung der Schulden Frankreichs wird durch steigende Zinsen zukünftig immer teurer werden. Grund dafür ist die sinkende Bonität des französischen Staates, denn auch bei ganzen Ländern gilt eine alte Faustregel aus dem Kreditgeschäft: Je schlechter der Schuldner und je mieser seine Bonität, desto höher die Zinsen, die er auf seine Kredite (bzw. bei Ländern Staatsanleihen) zu bezahlen hat.

Aktuell liegt die Rendite 10-jähriger französischer Staatsanleihen bei etwa 2,89 Prozent, während vergleichbare deutsche Bundesanleihen eine Rendite von etwa 2,03 Prozent aufweisen. Daraus ergibt sich ein Renditeabstand (Spread) von 86 Basispunkten (0,86 Prozentpunkten) zugunsten der französischen Anleihen. Dieser Spread hat kürzlich den höchsten Stand seit 2012 erreicht.

Im Mai 2024 hat die Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P) die Kreditwürdigkeit Frankreichs von „AA“ auf ein blamables „AA-“ herabgestuft (zum Vergleich: Deutschland hat ein erstklassiges „AAA“-Rating). Diese Entscheidung wurde hauptsächlich mit der Verschlechterung der Haushaltslage begründet, insbesondere mit einem Anstieg des Haushaltsdefizits auf 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2023. Diese Herabstufung hatte unmittelbare politische und wirtschaftliche Folgen. Politisch erhöhte sie den Druck auf die französische Regierung, schnell konkrete Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung zu ergreifen.

Premierminister Michel Barnier legte deshalb im Oktober 2024 einen Haushaltsplan für 2025 vor, der Einsparungen von insgesamt 60 Milliarden Euro vorsah. Davon sollten 40 Milliarden Euro durch Ausgabenkürzungen und 20 Milliarden Euro durch befristete Steuererhöhungen erzielt werden. Die Ausgabenkürzungen betrafen hauptsächlich den Sozialbereich, einschließlich Gesundheitswesen, Renten und Arbeitslosenversicherung. Die Steuererhöhungen zielten auf Unternehmen mit einem Jahresumsatz von über einer Milliarde Euro sowie auf Haushalte mit einem Jahreseinkommen von über 500.000 Euro ab.

Diese Maßnahmen stießen auf erheblichen Widerstand in der Bevölkerung und im Parlament. Um den Haushalt dennoch durchzusetzen, griff Barnier am 2. Dezember 2024 auf Artikel 49.3 der französischen Verfassung zurück, der es ermöglicht, ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament zu verabschieden – allerdings um den hohen Preis eines Misstrauensvotums, das nach jeder Berufung auf Artikel 49.3 droht. Macron hat seit seiner ersten Wahl im Jahr 2017 insgesamt 17 solcher Misstrauensvoten überlebt, weshalb er sich vermutlich dachte: Wird auch diesmal wieder gutgehen. Aber dieses eine Mal waren die Gräben im Parlament zu tief und der Widerstand der linken und rechten Parteien im Parlament gegen einen Haushalt, den keiner mochte, einfach zu groß.

Die zentralen Streitpunkte beim Etat für 2025 waren die folgenden:

Rentenanpassung: Die Regierung plante eine Erhöhung der Renten um lediglich 1,8 Prozent, während die Inflation auf 3,2 Prozent geschätzt wurde. Dies hätte eine reale Kaufkraftminderung für Rentner bedeutet. Marine Le Pen, die sich immer mehr zur Anwältin der kleinen Leute macht, kritisierte: „Ce budget est une insulte au bon sens des Français“ („Dieser Haushalt ist eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand der Franzosen“).

Zuzahlungen für Medikamente: Vorgesehen war eine Zuzahlung von 50 Cent pro verschriebenem Medikament. Marine Le Pen sah darin eine unzumutbare Belastung für sozial Schwache: „Wir können keinen Haushalt akzeptieren, der Rentner und französische Arbeiter bestraft, während er eine ineffektive Politik weiterhin finanziert.“

Medizinische Versorgung für illegale Migranten: Die Regierung plante, die kostenlose und großzügige medizinische Versorgung für illegale Migranten, die den Staat zuletzt 1,2 Milliarden Euro im Jahr kostete, auf absolute Notfälle und schwerwiegende Erkrankungen zu beschränken, was von linken Parteien scharf kritisiert, von Le Pen jedoch unterstützt wurde: „Es ist an der Zeit, sich zuerst um die Franzosen zu kümmern.“

Verteidigungsausgaben: Trotz Sparmaßnahmen in anderen Bereichen sah der Haushalt eine Erhöhung des Verteidigungsetats um 10 Prozent auf 50 Milliarden Euro vor. Die Regierung begründete dies mit der Notwendigkeit, die Streitkräfte zu modernisieren, was nicht die ganze Wahrheit ist, da darin auch erhebliche militärische Hilfen für die Ukraine versteckt sind. Le Pen, die genau wie Donald Trump im Ukraine-Krieg eine Verhandlungslösung verlangt, sieht darin „eine falsche Priorität“.

Marine Le Pen hat den Sturz der Regierung Barnier mit Zähigkeit und strategischem Geschick orchestriert – mit dem Ziel, sich als eine glaubwürdige Präsidentschaftskandidatin für 2027 zu positionieren. Zwar war der entscheidende Antrag des Linksbündnisses garniert mit Vorwürfen, Michel Barnier würde die „extreme Rechte“ hofieren, aus taktischen Gründen jedoch stimmten die RN-Abgeordneten dem Misstrauensvotum zu.

Marine Le Pen unterstützte das Votum gegen Premier Barnier.

Zum ersten Mal in ihrer seit Jahrzehnten währenden politischen Karriere, die voller Rückschläge und Demütigungen war, hat Le Pen einen entscheidenden Einfluss auf die politischen Geschicke Frankreich genommen. Der Sturz der Regierung Barnier ist für sie aber nicht nur taktisch, sondern symbolisch. Es ist ein Beweis, dass sie ganz vorne mitspielen kann. Die Genugtuung war ihr anzuhören, als sie nach dem Fall Barniers sagte: „Das ist keine persönliche Rache, sondern ein Moment der Wahrheit für die Regierung und für Frankreich.“

Ob Marine Le Pen 2027 jedoch wirklich Präsidentin wird, hängt im Moment ganz stark vom Ausgang eines Gerichtsverfahrens ab, das die französischen Staatsanwaltschaft gegen sie angestrengt hat.

Le Pen und 24 weitere Parteimitglieder werden beschuldigt, zwischen 2004 und 2016 fast sieben Millionen Euro an Mitteln des Europäischen Parlaments dazu verwendet zu haben, Assistenten zu finanzieren, die laut Anklage in Wirklichkeit für den RN gearbeitet haben. Die Konsequenzen für Le Pen nach einem Urteil, das im März 2025 erwartet wird, könnten massiv sein. Die Staatsanwaltschaft hat gefordert, sie zu einer Geldstrafe von 300.000 Euro, fünf Jahren Haft (davon drei auf Bewährung) und einem fünfjährigen Verbot zur Ausübung eines öffentlichen Amtes zu verurteilen. Nach einer Verurteilung wäre sie vom Präsidentschaftsrennen 2027 ausgeschlossen.

Marine Le Pen hat im französischen Fernsehen dazu vollkommen zu Recht erklärt: „Was sie verlangen, ist meine politische Zerstörung.“

In Frankreich spielt sich im Moment also dasselbe ab, was in den USA mit der Wahl Trumps soeben zu Ende gegangen ist: Die verkrusteten Strukturen bestehend aus den etablierten Parteien mobilisiert Legislative (Gesetzgebung) und Judikative (Rechtsprechung) gegen Politiker und Parteien, die ihnen ein Dorn im Auge sind und die sie am Durchregieren hindern könnten. Je erfolgreicher und mächtiger Le Pen wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die französische Justiz alles dafür tun wird, Le Pen aus dem Verkehr zu ziehen.

Ist Frankreich ab jetzt zahlungsunfähig, muss man fragen? Droht jetzt ein Government Shutdown nach amerikanischem Vorbild?

Nicht wirklich: Bis zur Bildung einer neuen Regierung und der Verabschiedung des Haushalts tritt in Frankreich die sogenannte „vorläufige Haushaltsführung“ („gestion provisoire“) in Kraft, ein Sicherheitsmechanismus, geschaffen, um handlungsfähige Staatsfinanzen trotz politischer Blockaden zu gewährleisten. Dies bedeutet, dass die Regierung genau mit dem Vorjahresbudget arbeiten muss – ohne größere Neuausgaben vornehmen zu können. Hat das Parlament bis zum 31. Dezember keinen neuen Haushalt verabschiedet, was aus heutiger Sicht wahrscheinlich ist, dann tritt die vorläufige Haushaltsführung automatisch in Kraft. Die vorläufige Haushaltsführung kann, abhängig von der Geschwindigkeit der Regierungsbildung und der Haushaltsverhandlungen, mehrere Monate andauern.

Rein finanztechnisch gesehen kann und wird die französische Staatsmaschinerie also auch ohne neuen Haushalt weiterarbeiten. Aber damit ist nichts gewonnen. Denn: Weder sind die politischen Gegensätze im Parlament aufgehoben, noch wird sich die Haushaltskrise gewissermaßen von selbst beruhigen. Ohne Sparprogramm und höhere Steuereinnahmen könnte die französische Staatsverschuldung 2029 bei 3.500 Milliarden Euro liegen und die jährlichen Zinsausgaben dann 105 Milliarden Euro betragen.

Dies würde die zweitgrößte Wirtschaft der EU und den politischen Zusammenhalt Europas gefährden. Und es würde den Ruf Frankreichs nach einem EU-Schuldenmechanismus, der die Schulden aller Mitgliedsländer vergemeinschaftet, viel lauter werden lassen.

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