
Wer etwas zu sagen hat, der schreibt einen Brief: Mit diesem schönen Satz warb die Post einmal für ihr Kerngeschäft, den Transport von Briefen. Und es stimmt ja: Briefe sind etwas Besonders, etwas Persönliches. Sofern sie keine Massenware sind, schlägt in Briefen das Herz des Absenders und lebt die Seele des Empfängers.
Auch eine Wahlentscheidung per Brief kann ein kostbarer persönlicher Akt sein. Immer mehr Menschen wissen diese Möglichkeit zu schätzen und werden zu Briefwählern. Ich sehe darin keine gute Entwicklung und meine: Die Briefwahl sollte abgeschafft werden.
Die aktuelle Folge von „Kissler Kompakt“ sehen Sie hier:
Auf den ersten Blick spricht alles für die Briefwahl. Demokratie lebt von Beteiligung – und je einfacher man es den Menschen macht, ihre Stimme abzugeben, desto lebendiger ist die Demokratie. Sagt die Theorie.
Briefwahl, heißt es, sei die angemessene Antwort auf moderne Lebensverhältnisse. Die Menschen machen häufiger Urlaub, reisen in entferntere Länder, sind an Wahlsonntagen anderweitig beschäftigt. Irgendein Event lockt immer. Und dann noch die Regentage! Man mag keinen Hund vor die Tür jagen, aber der brave Staatsbürger soll sich in eine muffige Turnhalle bequemen, um seinen Wahlzettel in eine Urne zu werfen? Das kann man doch nicht verlangen!
In einem Münchner Wahllokal werden 2017 Briefwahlunterlagen zur Bundestagswahl ausgezählt.
Lasst uns also per Brief wählen. Briefwählen ist ein Kinderspiel! Und genau so, als lustige Beschäftigung für schlichte Gemüter, wird die Briefwahl auch präsentiert – von der Bundeswahlleiterin. Auf deren Account bei Instagram lernen wir dies:
Heißa, wer mag da nicht per Brief wählen! Es muss ein Hauptspaß sein.
Wichtig aber bei der Briefwahl ist Folgendes: Die Wahl muss ohne Zeugen erfolgen, es braucht eine eidesstattliche Erklärung, dann den Gang zum Briefkasten und schließlich muss die Deutsche Post ihren Part erfüllen. Wer etwas zu sagen hat, darf nicht nur einen Brief schreiben. Er muss auch darauf vertrauen, dass die Deutsche Post für einen reibungslosen Briefverkehr sorgt. Darauf wetten sollte man im Jahr 2025 nicht unbedingt.
Als im Jahr 1957 die Briefwahl für Bundestagswahlen erlaubt wurde, mag es besser um die deutschen Tugenden Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit gestanden haben. Gerade eben wurde die Regellaufzeit für Briefe von maximal zwei auf maximal drei Tage verlängert. Prompt warnt etwa der hessische Wahlleiter: Für die Briefwahl stünde in diesem Jahr ein „deutlich engerer Zeitkorridor zur Verfügung als sonst.“ Bereits am 23. Februar wird der nächste Bundestag gewählt – in den Wahllokalen.
Ein Postbote entleert am 14.09.1957 im Wahlamt in München Säcke mit Wahlbriefen. Zum ersten Mal können auch Deutsche, die sich im Ausland befinden, per Briefwahl an den Wahlen zum Deutschen Bundestag teilnehmen.
Doch nicht nur das Risiko, dass Briefe verspätet oder gar nicht eintreffen könnten, spricht gegen die Briefwahl. Die Möglichkeit des Missbrauchs ist deutlich größer als bei der Urnenwahl. Deshalb hat Frankreich die Briefwahl wieder abgeschafft, und in Italien wurde sie nie eingeführt.
Bei jeder Briefwahl kann theoretisch manipuliert werden, auch in Deutschland. Das zentrale Wahlgeheimnis kann bei der Stimmabgabe am Küchentisch oder im Altersheim garantiert sein – oder halt nicht. Im Wahllokal hingegen gibt es Wahlkabinen für jeweils nur eine Person. Da ist kein Zugriff einer zweiten Person möglich. Um die Bewohner von Alters- und Pflegeheimen einzubinden, sollte es möglich sein, dort Wahllokale einzurichten. Kleiner Hinweis: Wahlurnen sind mobile Gegenstände.
Das stärkste Argument gegen die Briefwahl aber lautet: In einer Demokratie wählt nicht nur der mündige, sondern auch der informierte Bürger. Und am Wahltag sollten allen Bürgern dieselben Informationen zur Verfügung stehen. Eine Wahl, die sich über Wochen hinzieht, passt nicht zu diesem urdemokratischen Gedanken. Jeder sollte auf der Basis des Wissens am Wahltag entscheiden können – und nicht schon einen Monat zuvor.
Frei nach Karl Valentin: Demokratie ist schön, macht aber viel Arbeit. Ein Gang ins Wahllokal ist keine große Arbeit. Die Urnenwahl verringert aber die Möglichkeiten der Wahlmanipulation. Sie gibt dem Wahlvolk die Chance, sich an einem gemeinsamen Tag wirklich als Wahlvolk zu empfinden.
Und zur freien, gleichen und geheimen Wahl gehört auch derselbe Kenntnisstand am Wahltag. Darum meine ich: Schluss mit der Briefwahl – aus Liebe zur Demokratie.