
Der SPD laufen die Wähler fort. Da ist es naheliegend, die Wähler einzuschüchtern und vor allem einzusperren, hinter einer Mauer, einer Brandmauer. Zwar befindet sich die Partei im Niedergang, der sich solange fortsetzen wird, solange die Partei nicht Politik für den Souverän des Grundgesetzes, für das deutsche Volk macht, doch nehmen ihre Funktionäre im Funktionärsbunker ohne Fenster das nicht wahr. Wie sehr sie sich von der Wirklichkeit entfernt haben, wie sehr die kognitive Dissonanz zum Routinemodus der SPD-Funktionäre geworden ist, zeigen zwei Interviews von führenden SPD-Politikern, von Frank-Walter Steinmeier im ZDF und von Matthias Miersch in der Süddeutschen Zeitung.
Im Sommerinterview äußert Frank-Walter Steinmeier: „Demokratie lebt von Streit, wenn er mit Respekt geführt wird.“ Fast gleichzeitig ruft der Vorsitzende der Fraktion im Deutschen Bundestag, Miersch, aus: „Nur weil üble Propaganda gemacht wird, wechseln wir keine Kandidatin aus. Ich will es hier ganz deutlich sagen: Wenn der rechte Mob damit durchkommt, machen wir einen Riesenfehler.“ Lingua Quartii Imperii? Andersdenkende, Kritiker, ohne die es ja keinen Streit geben kann, wenn alle die Meinung von Steinmeier oder Miersch vertreten, als „rechten Mob“ zu bezeichnen, ist also die Art, wie Sozialdemokraten mit „Respekt“ streiten? Ist Steinmeiers Bedauern, dass der Ton „unversöhnlicher“ geworden ist, pharisäerhaft? Wer treibt also die von Steinmeier bedauerte zunehmende Polarisierung voran?
Aber auch Steinmeier nannte den demokratisch gewählten Präsidenten der USA mit bewunderungswürdiger Toleranz und großem Respekt im Streit einen „Hassprediger“. Im irenischen Geist, in den Worten des Mannes, der als Bundespräsident das Land nicht spalten, sondern zusammenführen soll, formulierte Steinmeier respektvoll und in der ihm eigenen Subtilität des Stils in einer Rede 2024: „Wir lassen uns dieses Land nicht von extremistischen Rattenfängern kaputt machen.“ Im Sommerinterview verteidigt sich Steinmeier, dass diejenigen, die ihm vorwerfen, Menschen mit Ratten verglichen zu haben, das Märchen, das nebenbei gesagt kein Märchen, sondern eine Sage ist, nicht kennen, schließlich habe der Rattenfänger Menschen verführt.
Wie in der Realität geht es auch in der Sage komplizierter zu, ist sie gewitzter, als es das Denken eines sozialdemokratischen Funktionärs zu erkennen vermag. Der Rattenfänger lockte mit seiner Pfeife oder Flöte zunächst tatsächlich die Ratten aus der Stadt und in den Fluss, wo daselbst sie jämmerlich ertranken. Doch von der Rattenplage befreit, weigerten sich die Bürger, dem Rattenfänger den versprochenen Lohn zu zahlen. Der Rattenfänger wurde, möchte man spotten, auf gut sozialdemokratische Art betrogen. So dass er etwas später durch sein Flötenspiel verlockt die Kinder der Stadt, als die guten Bürger in der Kirche den Gottesdienst feierten, auf Nimmerwiedersehen entführte.
Daraus ergibt sich, dass der Rattenfänger in der Tat zuerst Ratten verführte, ihm zu folgen. Der Vorwurf bleibt leider bestehen. In der Sage liest man nichts davon, dass Hameln vom Rattenfänger „kaputt“ gemacht wurde. Wie Steinmeier zu der Einschätzung kommt, dass Deutschland in aller Welt Respekt genießt, lässt sich nur so erklären, dass er, dass sein Genosse Maaß sowie Annalena Baerbock nun alles dafür getan haben, dass Deutschland als Spaßmacher respektiert wird. Wenn man Steinmeier zuhört, wird man an den großen Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg erinnert, der einmal notierte: „Sie schreiben aus Vaterlands-Liebe Zeug, worüber man unser liebes Vaterland auslacht.“
Offensichtlich kennt Steinmeier sich nur in den Märchen, Legenden und Sagen aus, die er sich ausdenkt. So behauptet er: „Damals, 2015, war der Iran weit entfernt von der Entwicklung seiner nuklearen Fähigkeiten, die wir heute befürchten müssen.“ Das stimmt, weil ihn das Embargo des Westens effektiv daran hinderte. „Unglücklicherweise ist dieses Abkommen, das unter einer Bush-Regierung, einer Obama-Regierung ausverhandelt worden ist, dann von der ersten Trump-Regierung zu Fall gebracht worden.“ Dass der Iran sich der Möglichkeit der atomaren Aufrüstung nähert, ist also die Schuld von Donald Trump, und nicht von Bush, Obama, Biden und Steinmeier.
Steinmeier ist also völlig unschuldig daran, dass der Iran in den Besitz einer Atombombe kommen könnte, wie er auch völlig unschuldig am Krieg in der Ukraine ist. Es war auch nicht Steinmeier, der vor Nato-Militärmanövern und geplanten Truppenstationierungen in Osteuropa warnte. Und ist es nicht Steinmeier, der gerade im Interview verkündete, dass der iranische Außenminister gestern oder vorgestern ein Signal gegeben habe, „das mindestens Interesse an … Verhandlungen bedeutet“? Dass der Iran indirekt Donald Trump gedroht hat, ihn zu ermorden, hat der Mann, der wie kaum ein zweiter gegen das Embargo und für das Atomprogramm gekämpft hat, dagegen nicht gehört. Dass der einflussreiche Geistliche Ajatollah Nasser Makarem Schirasi, der im Zweifel mehr Macht im Iran als der iranische Außenminister hat, verkündete: „Wir werden ihn nicht ausschalten (töten!), zumindest nicht im Moment“, das hat Steinmeier wohl nicht erreicht.
Dabei hätte er im Stern, nicht einmal auf einem „rechten Portal“, lesen können: „Ajatollah Makarem Schirasi, der zu den einflussreichen Klerikern im Iran zählt, sagte laut staatlicher Nachrichtenagentur Irna auf die Frage eines Gläubigen zu Trump in seinem Büro in Ghom: ‚Personen oder Regime, die eine islamische Herrschaft angreifen oder deren religiöse Führer bedrohen oder gar gegen sie vorgehen, gelten als ‚Mohareb‘ (Feinde Gottes/Krieger gegen Gott).‘ Daher sei es Pflicht der Muslime, diese ‚Feinde‘ zur Rechenschaft zu ziehen.“ Die Iran-Passage im Interview sagt viel über Steinmeier aus, der sich aus der Verantwortung für seine Iran-Politik stiehlt, wie er sich schon aus der Verantwortung für seine Russland-Politik gestohlen hatte. Sollte der Iran eines Tages über Atomwaffen verfügen, trägt Steinmeier eine nicht geringe Mitschuld daran.
Steinmeier publizierte ein Buch unter dem Titel „Wir“. Der Titel kann passender nicht sein, denn er sagt in aller Deutlichkeit: Wir – und nicht ihr! In diesem Buch, wie im Sommer-Interview mit dem ZDF präsentiert er sich, ohne dass es ihm auffällt, nicht als Präsident aller Deutschen, sondern als Präsident der dysfunktionalen Eliten. Seit 1998 regiert die SPD, mit einer kurzen Unterbrechung seit 2005 mit der Union die Bundesrepublik. Schaut man sich die Situation des Landes an, für die nun wirklich die Linke, das BSW und die AfD keine Verantwortung tragen, sondern einzig und allein SPD, CDU, CSU, FDP und Grüne, dann grenzt die Aussage von Steinmeier, dass wenn die Parteien der demokratischen Mitte scheitern, davon die „destruktiven Parteien an den Rändern“ profitieren würden, an Camouflage.
In Steinmeiers Demokratie gibt es offensichtlich zwei Klassen von Parteien und zwei Klassen von Wählern. Die Parteien der „demokratischen Mitte“ und die Extremisten an den Rändern. Was aber, wenn die „Parteien der demokratischen Mitte“ immer mehr den „demokratischen“ Rand der gestohlenen Demokratie vertreten? Steinmeier versucht, den Mann des Ausgleichs zu geben, der für Maß und Mitte steht, allein, seine Reden und Interviews belegen, er ist es nicht. Die liberale Maske sitzt nur schlecht, sie verrutscht bei jeder Bewegung.
So findet man auf Seite 63 die verräterischen Sätze: „Walter Ulbricht hatte den stalinistischen Albtraum aus Verdächtigungen und Säuberungen unter den Emigrierten im Moskauer Hotel Lux überstanden und erhielt nun den Auftrag der KPdSU, Partei und Staat im Osten Deutschlands zu errichten. Endlich kehrten die Ideen von Karl Marx … in die Heimat zurück.“ Den Satz, dass Walter Ulbricht den „stalinistischen Albtraum aus Verdächtigungen und Säuberungen“ nach Ostdeutschland brachte, sucht man an dieser Stelle vergebens. Übrigens schickten die Sowjets drei Gruppen, die Gruppe Ulbricht nach Berlin, die Gruppe Sobottka nach Schwerin und die Gruppe Ackermann nach Dresden. Und wie schon im Falle des Iran, wie schon im Falle der Russland-Connection findet Steinmeier seinen Hinterausgang, in dem er nun schildert, wie aus den guten Anfängen die bösen Folgen werden, wie aus der DDR eine Diktatur wurde; der Sozialismus kann nix dafür, und Karl Marx auch nicht.
Doch, gerade der Sozialismus ist die Wurzel des Übels. Sozialismus ohne Diktatur geht nicht, wie demokratischer Sozialismus als Begriff eine contradictio in adjecto ist. Würde Steinmeier nicht, wenn er diese Passagen weniger routiniert runterschreiben würde, wie eine Pflichtübung, sondern sich die Prozesse, wie eine linke Diktatur entsteht, genau anschauen, müsste ihn da nicht Nachdenklichkeit zurückhalten, vor allem im Selbstlob als Demokrat und darin, Anderen diesen Status abzusprechen, sie zu Rändern und im besten SED-Jargon zu Rattenfängern zu erklären? Es stimmt, wenn Steinmeier schreibt: „In der DDR wurde demokratisches Pathos bald zur leeren Phrase.“ Aber müsste nicht der Musterdemokrat sich auch einmal selbst zuhören? Zumal dieser Satz nur die noch harmlosere Hälfte darstellt, denn in der DDR wurde das demokratische Pathos nicht nur zur leeren Phrase, sondern zur ideologischen und zur juristischen Waffe gegen den Feind, der, weil er ein „Feind unserer Demokratie“ ist, entmenschlicht wird.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Wiese, sprach im Bundestag voller Hass von „Hetzjagden rechter Kreise, von sogenannten Lebensschützern, von rechten Nachrichtenportalen“, weil Rechtsprofessorinnen, die akademisch vertreten können, was sie wollen, nicht aber als Richterin, und schon gar nicht am Verfassungsgericht, in der Öffentlichkeit kritisiert wurden. Kritik wird als Hetze diffamiert. Woher kennen wir das bloß? „Es gibt ein weiteres fundamentales Problem für unsere Demokratie: die extreme Polarisierung über das Netz. Rechte Gruppen schüren da eine Stimmung, die auch Abgeordnete massiv unter Druck setzt.“
Berichterstattung und Diskussion sind für die SPD ein Problem, die Aufmärsche aufgrund einer Propaganda-Ente von Correctiv Anfang 2024, die von der SPD mit falschen Behauptungen geschürt worden sind, oder die Aufmärsche Ende Januar 2025, weil die Union eine Entschließung in das Parlament einbrachte, der die AfD zustimmte, in deren Verlauf Parteibüros der CDU gestürmt, Unionsabgeordnete tatsächlich bedroht wurden, stellen anscheinend für die Genossen Wiese und Miersch nur „freundliche Ermahnungen“ dar, doch einmal „nachzudenken“. Bevor man aus der Reihe tanzt oder falsch abbiegt.
Bei Lichte besehen nutzen sie die Methoden des Klassenkampfes, doch die Methoden des Klassenkampfes sind nicht die Methoden der Demokratie und demokratischer Parteien. Die Grundmaxime des Klassenkampfes hatte sinniger Weise vor Jahren der Kulturbeauftragte der EKD formuliert: „Der Feind aber ist mehr und etwas anderes als ein Gegner: Er hasst uns und unsere politische Kultur, teilt unsere Grundvorstellungen nicht, will ein anderes System … Deshalb muss man mit ihm anders streiten als mit dem Gegner: Er darf keinen noch so kleinen Anteil an der Macht erhalten, sein Sieg ist unter allen Umständen zu verhindern, Kompromisse sind mit ihm nicht erlaubt. Es darf kein Appeasement geben.“ Hatte der Bundespräsident im Interview nicht gefordert: „Demokratie lebt von Streit, wenn er mit Respekt geführt wird“?
Die Evangelische Kirche hatte brav zur Personalie Brosius-Gersdorf geschwiegen, deren fachliche Qualifikation wie Miersch leugnet, sehr wohl in Frage steht, das ist ja der Kern des Streites – die katholische Kirche nicht. Zurecht hatte der Bamberger Erzbischof Herwig Gössl darauf hingewiesen, dass die Ernennung von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin ein „innenpolitischer Skandal“ wäre. Deshalb wurde die katholische Kirche von dem Sozialdemokraten Miersch rüde abgefertigt: „Das ist eine unglaubliche Aussage gegenüber einer anerkannten Juristin. Überhaupt bin ich sehr empört, wie sich prominente Bischöfe und Kardinäle in diese Sache eingeschaltet haben. Kirche kann durchaus politisch sein. Sich aber an dieser Hetze zu beteiligen, ist unchristlich.“
Miersch ist über jede andere Position, über jede Kritik empört und denkt, wie auch Ulbricht und Honecker meinten, dass Kirche durchaus politisch sein könne, aber nur auf Seiten der SED, oder eben auf Seiten der SPD. Dass sich die katholische Kirche nicht wie die evangelische der SPD und den Grünen untergeordnet hat, ist für Miersch „empörend“. Mierschs inflationierender Gebrauch „Hetze“ für jede andere Position erinnert an den Tatbestand der Boykotthetze, den die erste Verfassung der DDR 1949 im Artikel 6 zum Verbrechen erklärte, der übrigens bis 1957 zur Begründung der Todesstrafe benutzt wurde.
Je mehr die SPD an Akzeptanz und Macht verliert, umso mehr will sie anscheinend Zustände herbeiführen, die Macht ohne Akzeptanz sichern. Um sich zu retten, stellt sie die Machtfrage. Sie hat keine Machtoptionen, jedenfalls keine demokratischen, die Union schon. Für die Union heißt es deshalb immer stärker: Partei oder Blockflöte sein.